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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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schlagend von Hand zu Hand durch die Luft über die Köpfe der Männer hinweg. Ich saß wie versteinert auf meinem Platz in der ersten Reihe und beobachtete schicksalsergeben diesen sägezähnefletschenden Todesschwarm.
    Wir fuhren den weiten Weg zurück nach Laramie. Am nächsten Tag flog ich dann nach Deutschland, nach Hause zur Beerdigung. Der Flug war schrecklich. In einem Propellerflugzeug ging es von Laramie nach Denver. Schlechte Sicht und Schneesturm. Beim Landeanflug auf Denver startete die Maschine, nachdem sie schon die Erde berührt hatte, wieder durch. Aber ich hatte keine Angst. Ich war zornig.

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    4. Kapitel
    Nach vierunddreißig Stunden und viermal umsteigen war ich wieder in Frankfurt, lag auf meinen Taschen an genau derselben Stelle in der Abflughalle, auf der ich vor nur drei Monaten gelegen hatte, und wartete auf meinen Anschlussflug nach Hamburg. Dort sollten mich meine Eltern und mein übrig gebliebener Bruder abholen. Bevor sie mich sahen, sah ich sie, durch eine große Scheibe, auf einer Bank sitzen. Um sie herum wurde gerannt, Heimgekehrte wurden begrüßt und geküsst, doch sie bewegten sich nicht, starrten wie traurige Steine auf den Ausgang. Ich hatte mir diese Heimkehr so anders vorgestellt. Als Basketballstar, durchtrainiert, mit fließendem Englisch und glitzerndem Selbstbewusstsein. Als sie mich sahen, umarmten wir uns, standen inmitten der rennenden Menschen und hielten uns aneinander fest.
    Im Zimmer meines Bruders war alles so, wie er es zurückgelassen hatte. Die Vorhänge zugezogen. Das Bett zerwühlt. Drei aufgeschlagene Bücher auf dem Flickenteppich neben dem Bett. Im Gegensatz zu mir las mein Bruder, oft sogar gleichzeitig in verschiedenen Büchern. Ein Häuflein geschnittener Fingernägel auf dem Nachttisch. Ein offener Koffer mit ordentlich gefalteten Kleidungsstücken. Drei Tage nach dem Unfall wäre er endgültig nach Gießen gezogen, um sein Medizinstudium zu beginnen.
    Der große Schmerz änderte alles. Wir saßen zeitlos beisammen und redeten. Es gab keinen Schlaf mehr, auch wenn man ihn gerne gehabt hätte. Der Schlaf kam nun hinterrücks zu demjenigen, der einfach nicht mehr konnte. Mitten in der Nacht saßen wir zu viert am Küchentisch und ich erzählte von Amerika, während mein übrig gebliebener Bruder Nudeln kochte. Wir lachten auch viel, zum Beispiel wenn ich von den amerikanischen Mädchen erzählte und ihren Frisuren. Mal schlief jemand im Sessel ein oder ich auf dem Boden neben unserem großen Hund, der ja meinem Bruder gehört hatte. Oder ich schlief wieder wie ganz früher in der sogenannten Ritze zwischen meinen Eltern. Mein Vater, der immer dick gewesen war und sein Dicksein bekämpft hatte, wurde von Tag zu Tag dünner. Meine Mutter versuchte, Zeitung zu lesen, doch es ging nicht, ihre Hände zitterten zu sehr. Oft trafen wir uns im Zimmer meines toten Bruders, nahmen Gegenstände in die Hand und rochen an seinen Kleidungsstücken. In der Küche stapelte sich dreckiges Geschirr und mein unrasierter Vater wechselte sein stinkendes Hemd erst, als ihm mein Bruder ein frisches brachte. Wenn ich in meinem Zimmer lag, das ich immer noch »Kinderzimmer« nannte, und mich umsah, setzte sich das fort, was schlagartig mit der Todesnachricht in Laramie begonnen hatte: die demonstrative Gleichgültigkeit der Möbel und Gegenstände meiner Trauer gegenüber. Alles innerhalb dieser vier Wände, unter dieser Zimmerdecke, über diesem Fußboden sah aus wie festgeschraubt, unverrückbar. Und auch ich selbst, wie ich da seitlich in meinem Bett lag, kam mir vor wie ein achtlos abgelegter Gegenstand.
    Der einzige Besuch, der kommen durfte, war ein Mann vom Beerdigungsinstitut. Wir aßen staubtrockene dänische Kekse und er erklärte uns mit seiner professionellen Betroffenheitsstimme, teilnahmsvoll und doch sachlich, die nötigen Formalitäten. Als er weg war, mussten wir alle lachen, weil mein Bruder ihn perfekt nachahmen konnte: »In dieser traurigen Stunde möchte ich Ihnen mit meiner langjährigen Erfahrung zur Seite stehen.« Und dann wieder alle weinen, weil uns klar wurde, dass meinem mittleren Bruder das auch sehr gefallen hätte. Innerhalb von nur zwei Wochen fraß sich die Trauer in jede Ritze des Hauses hinein. Eroberte den Keller, das Wohnzimmer, den Flur, die Küche, den ersten Stock mit den Kinderzimmern und auch den Dachboden. Kein Winkel im Haus, der nicht unter Schock stand.
    Eigenartig traurig machten mich die alltäglichsten Verrichtungen. Essen:

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