Alle Toten fliegen hoch: Amerika
auch.« Überall waren Schafe. Die vor uns auf dem Weg lagen, standen missmutig auf und blökten uns mit weit herausgestreckten Zungen an. »Ich war sogar im Todestrakt. Da war einer, der sprach Deutsch. Randy Hart heißt der.« »Und was hat er verbrochen?« »Doppelmord in Babenhausen.« Mein Vater lächelte. So was gefiel ihm, abgelegene Orte, an denen sich Grausiges ereignet hatte. »Doppelmord in Babenhausen?« »Ja, der war Soldat in Babenhausen, spricht total gut Deutsch, und ist dann in Amerika zum Tod verurteilt worden. Der wollte sogar, dass ich ihm schreibe.« Da gerade Ebbe war, sahen wir das Meer nur weit entfernt als gekräuselte graue Fläche. Im Schlick lief ein Austernfischer hin und her. »Hast du denn schon ein paar Freunde gefunden?« »Nee, noch nicht so richtig. Die Schüler sind ja in jedem Kurs andere und im Tennisteam waren nur Idioten.« »Deinen Stundenplan finde ich ehrlich gesagt ein bisschen merkwürdig. Gut, dass du wenigstens einen Englischkurs genommen hast.« »Ich muss das Jahr doch eh wiederholen.« »Ja.« Einige Böen waren so stark, dass sich meine Locken – und dafür brauchte es schon einige Windstärken – umbogen und mir wippend vor den Augen tanzten. »Wann fängst du denn wieder an zu arbeiten?«, fragte ich. Mein Vater blieb stehen. »Weiß nicht. Es fällt mir so schwer, an etwas anderes zu denken als an …«, er konnte den Namen meines Bruders nicht aussprechen, »… als an den Unfall.« »Ja, eilt ja auch nicht. Guck mal, dahinten. Ist das nicht der Leuchtturm von Westerhever?« »Ja, vielleicht. Weißt du, mein lieber Josse, du musst immer gut auf dich aufpassen. Versprichst du mir das?« »Ja.« »Wenn du jetzt zurückgehst, mein Lieber, dann pass bitte, bitte gut auf dich auf.« »Mach ich.« Der Wind war so stark geworden, dass wir uns bei jedem Schritt dagegenstemmen mussten. Dann sagte, ja rief mein Vater: »Ich weiß wirklich nicht, wie deine Mutter und ich das je begreifen sollen, dass er nicht mehr da ist. Einfach nicht mehr da. Er hatte sich so auf sein Studium gefreut. War so stolz. Ich vermisse ihn so sehr.« Ich umarmte meinen Vater und unsere Haare, seine schütteren und meine Locken, wehten ineinander. »Komm«, sagte er, »wir gehen zum Auto zurück. Mann, ist das ein Sturm. Der haut einen ja fast um!« »Weißt du noch?«, rief ich und öffnete meinen Anorak. Mein Vater lachte und knöpfte seinen Dufflecoat auf. Nebeneinander standen wir auf dem Deich, hielten mit den Händen Anorak und Mantel weit geöffnet und legten uns so schräg wie möglich in den Sturm. Mit voller Wucht fuhr der Wind unter unsere Flügel und wir spielten fliegen. Er: »Da unten, siehst du die zwei Schafe?« Ich: »Ja, sehe ich. Vorsicht Wolke! Da ist ein Schiff in Seenot!« Er: »Egal!« Ich: »Jaaa! Da kann man nichts mehr machen!« Er: »Fertig machen zur Landung!« Wir klappten die Flügel ein und wanderten zurück.
Hamburg – Frankfurt. Frankfurt – New York. New York – Chicago. Chicago – Denver. Denver – Laramie. Das waren die Stationen meiner Rückreise. Meine Flughafenfaszination war verschwunden. Gleichgültig, mit einer Spur Genugtuung darüber, nicht mehr eingeschüchtert zu sein, besorgte ich mir meine Bordkarten, passierte ich die Sicherheitskontrollen, suchte ich mein Gate, nahm ich mir Zeitungen und las während des Starts. Mehr als einen kurzen Seitenblick hatte ich für das Wunder des Abhebens nicht mehr übrig. Auf dieser Rückreise gab es Momente, da ich so erschöpft war, dass ich jedes Zeit- und Raumgefühl verlor. Ich war müde. Müde vom Weinen und Trösten, müde vom Organisieren, müde vom erneuten Aufbrechen, Abschiednehmen und Zurücklassen. Es fiel mir schwer, den Kopf aufrecht zu halten. Meine Gedanken verselbstständigten sich. Ich war so müde! Ich stellte mir vor, jeden Arm, jedes Bein einzeln schlafen zu legen. Ja, jeden meiner müden Finger in sein eigenes Bett zu legen, unter seine eigene Bettdecke. Jeden Fingernagel auf sein eigenes Kopfkissen. Jeder einzelne Knochen wollte schlafen, ungestört, für sich sein. Das sah ich ganz deutlich vor mir. Wie mir die Finger von der Hand abfielen und in ihre Betten schlüpften. Wie ein Knochen nach dem anderen unter seine Daunendecke kroch. Und mein Kopf? Meinen müden Kopf hätte ich am liebsten aus dem Fenster in die Wolken geschmissen und wie eine Kanonenkugel für immer im Meer versenkt, so schwer und wirr und übervoll war er.
Ich verschlief den kompletten Transatlantikflug und wurde
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