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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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hatte die Augen geschlossen, sah aus wie ein dunkelhäutiger Chinese. Seine Augäpfel wanderten unter den Lidern hin und her. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er schlief oder hellwach war. Ich setzte mich auf einen der verbogenen Stühle. Das Mobiliar in diesem Raum sah so aus, als ob es zu jeder vollen Stunde einmal komplett gegen die Wände geschleudert würde. Während der ersten Minuten traute ich mich nicht aufzublicken. Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen: Es ist ein Irrtum. Alles ist in Ordnung. Es kann dir nichts geschehen. Du bist in Amerika. Bleib ruhig und überleg dir, was zu tun ist. Das ist halt so. Manche Dinge kann man nicht begreifen, die klären sich nie auf, die versteht man nie, die bleiben einem für immer ein Rätsel. Ich verlor den letzten Rest meines lädierten Zeitgefühls. Nach einer Stunde – oder waren es schon zwei? – öffnete der dunkelhäutige Chinese seine Augen, musterte mich lange, stand auf, kam zu meinem Platz hinüber und sagte: »I want your shirt.« »What?« »Gimme your shirt!« Der einäugige Glatzkopf lachte wie ein irrer Zyklop, kratzte ein trockenes Kaugummi von der Wand und steckte es sich in den Mund. Der Inder tat so, als ob er unsichtbar wäre, wippte hin und her. Der Chinese griff sich den Saum meines T-Shirts, reflexartig zog ich den Bauch ein. Völlig verängstigt hob ich wie ein kleiner Junge die Arme und er zerrte es mir über den Kopf. Er ging zurück in seine Ecke, zwängte sich in mein T-Shirt, zog es sich über seine Hängebrüste und schloss wieder die Augen. Einmal durfte ich noch aufs Klo, aber auch bei diesem kleinen Ausflug gelang es mir nicht, irgendeine Antwort zu erhalten. Obwohl ich mich gegen die Müdigkeit wehrte, Angst hatte einzuschlafen, dämmerte ich weg. Als ich aufwachte, war ich mit dem wippenden Inder allein. Ich hatte Hunger. Wie lange war ich nun schon hier drin? Meine Eltern würden sich schreckliche Sorgen machen, weil ich nicht anrief. Stan und Hazel würden in Laramie am Flughafen stehen und vergeblich warten. Im Neonlicht verschoben sich die Wände. Plötzlich sah ich keine Ecken mehr und es kam mir vor, als wäre ich in einer Kuppel gefangen. Da ging die Tür auf: »Follow me!« Es ging zurück in den Raum, in dem ich mich, wie es mir vorkam, vor Tagen ausgezogen hatte. Alle meine Anziehsachen lagen auf dem Boden. Fein säuberlich zusammengelegt, eingeschweißt in Zellophan. Am Ende dieser Reihe standen meine Wanderschuhe. Beutel für Beutel riss ich auf und zog mir die leicht chemisch riechenden Sachen an. Ich bekam mehrere Papiere vorgelegt, die ich unterschreiben musste. Verschiedene neue Flugtickets und Bordkarten und ganz zum Schluss auch meinen Brustbeutel. Der Mann, der sich nun um mich kümmerte, war nicht derselbe wie zu Beginn, hatte aber exakt den gleichen Anzug an, den gleichen ausrasierten Nacken und auch einen sehr schönen Füllfederhalter mit goldenen Initialen. »We booked you on a new flight straight to Denver.« Er brachte mich zurück vor die Schwingtür, sah auf seine goldene Uhr und sagte: »Hurry up. If you’re lucky you’ll catch your plane!«
    Ich rannte los und tatsächlich, das Flugzeug war noch da. Direkt nach Denver! Man begrüßte mich mit meinem Namen, so, als hätte man auf mich gewartet. Ich hatte einen Platz ganz vorne: Business Class. Von einer bildhübschen Stewardess wurde ich liebevoll betreut. Auf meinen bisherigen Flügen war ich maßlos von den Stewardessen enttäuscht gewesen, hatte meine überzogenen Erwartungen an diesen Berufsstand komplett revidieren müssen. Doch die Dame, die mich zu meinem lederbezogenen Sitzplatz führte, war umwerfend. Später kippte sie mir in einem Luftloch Tomatensaft auf meine chemisch gereinigte Jeans. Sie kniete sich hin und tupfte mir mit einer Serviette, die sie mit Selters befeuchtet hatte, den Fleck aus dem Hosenbein. Ich bekam eine eigene Thermoskanne Kaffee, konnte zwischen verschiedenen Sandwiches wählen, und sie überreichte mir Gratiskopfhörer für den Kinofilm »The Color Purple«. Ich studierte das abgestempelte Papier des John-F.-Kennedy-Airports. Viele Vokabeln, die ich nicht kannte. Ich las die Worte »epidemic« und »disease« und »sheep« und »excrement«. Baustein für Baustein setzte sich der Grund meiner demütigenden Inhaftierung zusammen. Zu mir selbst sagte ich mehrmals: »Das gibt’s ja wohl nicht … Die spinnen ja wohl!« und »Warum sagen die denn das einem nicht!«. Ich war entrüstet, freute mich aber bereits darauf,

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