Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Pflegefall verwandelt hatte? Ich sah es vor mir: Meine Gasteltern schoben mich im Rollstuhl zum großen Finale der Basketballmannschaft und ich applaudierte mit den Wimpern. Beim dritten Versuch gelang es mir, die Beine aus dem Bett zu biegen und mich auf die Bettkante zu setzen. Ich streckte die Arme über den Kopf. Alles tat mir weh. Ich kam mir vor wie eine Versteinerung. Ein Archäopteryx, der nach Tausenden von Jahren aus dem Stein steigt und die Flügel streckt. An diesem Nachmittag wäre ich beinah nach einer halben Stunde Konditionstraining zu Coach Carter gegangen, um mich vorzeitig zu verabschieden. Meine Beine zitterten, ich sah meine Gegner doppelt und hörte verzerrte Stimmen. Durch einen glücklichen Zufall unterbrach Carter genau in dem Augenblick die Übung, als ich mich auf dem Weg zu ihm gemacht hatte, und gönnte uns allen eine Pause.
Nach dem Training winkte mich Coach Carter zu sich. »Sit down!« Ich setzte mich. »Listen. You are a terrible basketball player but a very good sportsman. So I have to find out how fast you learn. Grab a ball.« Coach Carter ging ein Stückchen weg von mir, ungefähr fünf Meter. Ich stand auf. »Pass me the ball!« Ich warf ihm den Ball zu. Er schleuderte ihn zurück. »Don’t pass like a faggot!« Ich warf ihm den Ball stärker zu. Wieder passte er den Ball so scharf zurück, dass ich ihn fast nicht fangen konnte, und rief: »Faggot!« Faggot? Was sollte das heißen? Beschimpfte er mich als Fagott? Konnte das sein? Egal, es ging darum, zu beweisen, dass ich nicht das war, was er zu mir sagte. Dass es eine sehr abfällige Bezeichnung für Schwule war, erfuhr ich erst Wochen später. Mit aller Kraft feuerte ich den Ball zurück. Er fing ihn mit einer Hand. Mit EINER Hand! Es gab einen Knall und der Ball klebte in seiner riesigen Pranke. Er nickte: »Better! Again.« Ich stand da, Coach Carter ging um mich herum, und wir passten den Ball hin und her, bis meine Hände glühten. Dann musste ich mich an die Freiwurflinie stellen und auf den Korb werfen. Zehn Versuche. Kein Treffer. Er sagte mir, dass ich alles falsch machen würde, was man nur falsch machen konnte. Er nahm sich den Ball und warf ihn ohne große Konzentrationspausen ein paarmal in den Korb hinein. Eigenartigerweise rollte der Ball, nachdem er durch das Netz gefallen war, zu Coach Carter zurück und blieb ihm wie ein treues Hündchen vor den Turnschuhen in Größe neunundvierzig liegen. Draußen war es schon längst dunkel geworden und doch sah ich, wie die Schneeflocken durch die Nacht wirbelten. Die anderen Schüler waren gegangen. Nur noch der Assistenztrainer saß auf der Tribüne und klimperte mit dem Schlüsselbund. Ein strafender Blick von Carter genügte und er legte es beiseite. In der nächsten Stunde lernte ich, aus den Knien heraus zu werfen und nicht mit der Kraft der Arme. Ich lernte, dass es eine Wurfhand und eine Führungshand gibt. Ich musste meine linke Hand hinter den Rücken legen und nur mit der Rechten werfen. Ich hielt das für unmöglich. Immer hatte ich beide Hände am Ball gehabt, mit beiden Händen den Ball auf den Korb geworfen. Ich hielt den Basketball einhändig über meinem Kopf wie ein Kellner sein Tablett und versuchte, aus den Knien heraus den Schwung in meine Wurfhand zu lenken. Vorbei. Carter korrigierte an mir herum, justierte die Winkel zwischen Hand und Arm, zwischen Arm und Schulter. Langsam bekam ich ein Gefühl für den ungewohnten Bewegungsablauf. Er sagte: »And now the most important thing. Don’t look at the ball! Look at the basket. There!« Er zeigte auf den Basketballkorb. »THERE is the target. Who gives a shit about watching a ball fly through the air. Watch how it hits the target!« Für mich war das unfassbar schwer. Nicht dem fliegenden Ball hinterherzugucken, sondern die Augen die ganze Zeit auf dem Korb zu lassen. Mit dem Blick auf ihn zu warten. So lange, bis der Ball durchs Netz rauschte. Zum Abschluss dieser Sondertrainingseinheit deutete er wieder auf die Freiwurflinie: »Now try again.« Zehnmal warf ich auf den Korb. Vier Treffer. »Not good enough, but better than none!« Auf dem Weg zur Umkleidekabine sagte er zu mir, dass ich endlich aufhören solle, mich darüber zu wundern, wenn ich treffe. Von nun an solle ich mich darüber wundern, wenn ich NICHT treffe. Zum Abschied klopfte er mir auf die Schulter und sagte auf Deutsch: »Gutes Nacht!«
Am nächsten Tag versuchte ich, das umzusetzen, was mir Coach Carter beigebracht hatte. Beim
Weitere Kostenlose Bücher