Alle Toten fliegen hoch: Amerika
wohlgenährten Heiterkeit. Es wurde gekocht, gebraten, gebacken und vor dem unter Tonnen von Lametta begrabenen, wie ein Warndreieck blinkenden Tannenbaum stapelten sich Geschenke. Von meinen Eltern bekamen Stan und Hazel eine Schallplatte mit deutschen Weihnachtsliedern, die großen Anklang fand. Bevor wir am 25. und nicht, wie bei mir zu Hause, am 24. Dezember unsere Pakete auspackten, sahen wir eine Serie im Fernsehen, in der ebenfalls der 25. Dezember war und Weihnachten gefeiert wurde. Stans Schwestern und auch Hazel waren sehr gespannt, was jeder Einzelne im TV geschenkt bekommen würde. Jedes Mal, wenn einer der Darsteller, insbesondere die Kinder, ein Geschenk auspackte, jauchzten die Schwestern auf und riefen: »Oh my God! Look! A pink nightgown. How cute! Isn’t that gorgeous!« Im Nachhinein kam es mir sogar so vor, als hätten sie die Fernsehbescherung mit mehr Anteilnahme verfolgt als unsere kurz darauf stattfindende echte. So sehr wie über die kirchenfensterbunte Tiffanylampe, die die Hauptdarstellerin von ihrem Ehemann bekam, freute sich Hazel über ihr neues Bratenthermometer auf jeden Fall nicht. Als ich mein Paket auspackte, war ich überwältigt. Stan und Hazel hatten mir eine Spiegelreflexkamera geschenkt. Bei den Vorbereitungstreffen in Hamburg waren wir mehrmals darauf hingewiesen und gewarnt worden, dass Weihnachten der absolute Heimwehhöhepunkt sei. An keinem anderen Tag des gesamten Jahres sei ein Austauschschüler so gefährdet, von einer Heimwehattacke niedergestreckt zu werden, wie an Weihnachten. Zu keinem anderen Zeitpunkt sei der Kulturschock so vehement, die Kluft zwischen der alten und der neuen Welt so abgrundtief. Weihnachten sei das Heimwehnadelöhr, durch das jeder hindurchmüsse. Und angeblich war es keine Seltenheit, dass Austauschschüler nach dem Weihnachtstelefonat mit zu Hause weinend zusammenbrachen, in ihr Zimmer gingen, ihre Koffer packten und keinen Augenblick länger in der von Jingle-Bells dröhnenden Kitschwelt ausharren wollten. »Wer Weihnachten schafft«, hatte Traudel Buscher-Böck gerufen, »der schafft auch locker den Rest der Zeit.« Ich spürte von alldem gar nichts und war heilfroh, nicht zu Hause sein zu müssen. Ich konnte mir keinen von Trauer und Schmerz angefüllteren Ort vorstellen als das Weihnachtszimmer mit meinen abgemagerten Eltern, meinem Bruder und dem Hund. Natürlich sagte ich meiner Mutter am Telefon, wie gerne ich bei ihnen sein würde, aber die Wahrheit war eine andere.
Von dem Augenblick an, da ich es in die erste Mannschaft des Basketballteams geschafft hatte, wurde ich in der Highschool anders wahrgenommen. In den ersten Monaten waren mir die Schüler freundlich begegnet, aber ohne wirkliches Interesse an meiner Person. Wenn ich jetzt durch die Schule ging, tuschelten die Mädchen und warfen mir aufmunternde, ja, anzügliche Blicke zu. Ein Mädchen zwinkerte mir sogar jedes Mal zu, wenn ich ihr begegnete, und schlug sich mit der flachen Hand knallend auf ihren Jeanshintern. Ich sah verstört zu Boden, tat, als hätte ich sie nicht gesehen.
Erst bei meiner dritten Bitte um ein Date gab Maureen nach und wir verabredeten uns für einen Samstagabend. Als ich ihr gestand, dass ich keinen Führerschein hatte, war sie perplex, überlegte einen Augenblick und sagte: »Oh well, I can drive.« Ich gab ihr meine Adresse, beschrieb den Weg und bat sie, auch das Lokal, die Bar oder das Restaurant auszusuchen, da ich mich mit diesen Dingen nicht auskannte. Sie gab einen eigenartigen Grunzton von sich. »Okay. So I’m the boy and you’re the girl, right? One last question. Do I also have to pay?« Da ich mit meinem knappen Taschengeld kaum auskam – ich bezahlte jeden Tag das Lunchpaket in der Schule davon –, schlug ich vor, sich die anfallenden Kosten zu teilen. Maureen war sprachlos. Sie hatte wirklich schöne Augen. Ihre Pupillen waren so groß, dass für das dunkle Grün nur wenig Platz blieb. Ein schmaler Ring ums Schwarz. »Kind of unusual, but alright! I’ll come and pick you up!« Die Schulglocke läutete und das blecherne Scheppern der zuklappenden Spindtüren erfüllte den Gang. Sie kam näher zu mir heran und stellte sich auf die Spitzen ihrer Cowboystiefel: »Congratulations to the Varsity. Wow! Now you are a Plainsman, German!« Ich sah ihr hinterher. Hätte sie nicht diese absurde Haarhaube auf, dachte ich, könnte man sie auch für einen Jungen halten. Einen zarten Cowboy. Sie ging davon und auch ich musste mich beeilen, da ich
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