Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Bill fuhr mich nach Hause, ließ mich auf der Auffahrt aussteigen, winkte, und jedes Mal dachte ich: Wie kann man eine Baseballkappe nur so bescheuert weit oben auf dem Kopf tragen? Warum zieht der sie sich denn nicht runter? Er aß in letzter Zeit nur noch sehr selten bei seinen Eltern. Etwas zwischen Stan und ihm schien kompliziert zu sein. Ich glaube, Stan hielt ihn für faul.
Brian, mein mittlerer Gastbruder, hatte sehr viel zu tun, sein Medizinstudium ließ auch ihm kaum noch Zeit, bei den abendlichen Tischgebeten und Essen dabei zu sein. Doch jedes Mal, wenn er kam – und er tat dies meist unangekündigt –, waren Stan und Hazel überglücklich. Er liebte es, mit seinem Jeep auf die Auffahrt zu kurven und sich von seinen herbeieilenden Eltern beklopfen und hofieren zu lassen. Mit mir fuhr Brian Geschenke für Weihnachten einkaufen. Er beriet mich, was seinen Eltern und Brüdern gefallen könnte. Für Stan kaufte ich ein Hemd, für Hazel einen gerade erschienenen Fantasyroman, für Bill einen besonderen Angelköder, eine schillernde, mit Haken gespickte Fischattrappe zum Blinkern, und für Donald ein Poster. Eine mit Altöl beschmierte Frau räkelte sich auf der Kühlerhaube eines Porsches. Don liebte genau wie sein Vater deutsche Autos. Allerdings nur die teuren. Dass man auf der deutschen Autobahn tatsächlich so schnell fahren konnte wie man wollte, es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gab, war für Don ein Traum. Es war im Grunde das einzige Thema, mit dem ich bei ihm überhaupt je gepunktet hatte. Von allen drei Brüdern hatte nur Brian eine Freundin. Eine schüchterne, spindeldürre Kommilitonin, die Chirurgin werden wollte. Seltsamerweise habe ich weder Brians noch Bills Wohnungen je betreten.
Meine Rivalität mit Don verlief in unberechenbaren Wellen. Eine Zeit lang ging alles gut, Don schien durch den Verlust meines Bruders nachsichtig geworden zu sein. Meine Sachen im Bad blieben, wo sie waren, und er verschonte mich mit Gemeinheiten. Dann brach, meist wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit, wieder offene Feindschaft zwischen uns aus. Er wollte nicht, dass ich mich um Mr. Spock kümmerte. »Stay away from my horse!« Dann bekam er aber Ärger von seinem Vater, weil er nichts tat und das Pferd knietief im Mist versank. Er sagte abenteuerliches Zeug zu mir: »You’ve lost the war! We’ve won the war! So be careful what you are doing. I’m watching you!« Oder er kam mit einem BMW -Kalender in der Hand und seinem provokanten Hüftschwung in mein Zimmer geschlendert und fragte: »Sorry, do you already know the day you’re leaving?« Ich war oft nicht schnell genug, um die Bosheiten zu durchschauen. Ich antwortete: »Some day in August.« Er blätterte seinen Autokalender bis August durch und schrieb quer über alle einunddreißig Tagesspalten: »The German is leaving!«
An dieses »German« musste ich mich gewöhnen. Alle in der Schule, ja selbst einige Lehrer, zum Beispiel Larry beim Wordworking, nannten mich so: »Nice chair, German!« Es hatte auch damit zu tun, dass sie das Ch in meinem Vornamen nicht aussprechen konnten und daraus ein Ck machten. Dons Angriffe machten mir aber lange nicht mehr so viel aus wie zu Beginn meines Amerikajahres. Vielleicht tat es mir sogar wohl, gab mir, da mich mein mittlerer Bruder auch oft bis aufs Blut gequält und geärgert hatte, ein wenig Halt.
Von meiner Freundin kam ein Kärtchen. Auf der Vorderseite waren zwei Schnecken, die sich im hohen Gras mit geschlossenen Augen küssten. Ihre Fühler berührten sich. Hier das, was sie mir schrieb:
Na mein Lieba!
Deine superfaule Traummaus war extra auf dem Weihnachtsmarkt, um diese winzige Karte zu kaufen, damit sie nicht so viel schreiben muss. Nee, jetzt mal im Ernst. Ich war mit Andi und Harald auf’m Weihnachtsmarkt in Lübeck. Es war sehr schön. Richtig weihnachtlich. Danach hatte ich Weihnachtsfeier vom Handball. Harald hat mich hingefahren. Wir haben in den Balkanstuben gegessen. Es war ganz toll. Um 23 Uhr sind Imke, Hiske, Ole, ich und Harald auf dem Fußball-Weihnachtsball gewesen. Das war nicht so toll. Die Leute da waren viel zu gut drauf für mich. Aber ich will nicht jammern. Traummaus halt die Ohren steif!
Letztes Mal in der Schule haben wir über die Körperbehaarung gesprochen. Unter anderem auch über Bauchhaare. Ich bin völlig geschmolzen. Sind sie schon gewachsen? Was? Noch mehr sind es geworden? Is ja ’ne Frechheit. Oder hat sie dir schon jemand weggeguckt? Na ja, es reicht ja auch noch,
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