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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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noch durch die halbe Schule zu meiner Englischklasse musste.
    Als ich Hazel von meinem Date erzählte, legte sie ihr Buch auf den Couchtisch – auf dem Cover war eine verwitterte Ritterburg, von deren oberster Zinne eine fauchende Hydra stürzte – und fragte mich eine halbe Stunde lang über Maureen aus. So hatte ich Hazel noch nie erlebt. Sie fragte und forschte mit kindlicher Neugierde nach jedem noch so winzigen Detail. Wie alt Maureen wäre, wie sie sich kleiden würde, welche Kurse sie besuchen würde, ob sie katholisch sei, was ihre Eltern für Berufe hätten? Keine dieser Fragen konnte ich beantworten. Hazel war enttäuscht. Und natürlich, wie wir uns denn kennengelernt hätten? Ich log: »In school.«
    Am Samstag sah ich Maureens Auto vom Wasserbett aus eine halbe Stunde zu früh vom Highway in unsere Siedlung abbiegen. Und doch kam sie eine Viertelstunde zu spät. Heimlich beobachtete ich von meinem Fenster aus, wie Maureen in unsere Auffahrt einbog. Sie parkte direkt unter den großen Bäumen. Jeden Tag ging Stan mit einer langen Stange durch den Garten und stieß den Schnee von den Ästen, damit sie unter der Last nicht brachen. Ich war gespannt, wie Maureen aussehen würde. Ich hatte mich für eine Jeans und ein schwarzes Hemd mit Druckknöpfen entschieden. Sie stieg aus dem Auto und trug eine weißrote Lederjacke mit großen Zahlen darauf. Die ersten Schritte tastend, aus Furcht vor eventuellem Glatteis, kam sie auf das Haus zu. Sie musste sich allerdings keine Sorgen machen, da Stan, sobald aller Schnee weggeschaufelt war, kiloweise Salz streute. Wie ein mittelalterlicher Bauer schritt er über den Platz, griff in die Tüte und säte Salz. Hazel geriet darüber jedes Mal in Wut, weil der Pudel wunde Pfotenballen bekam. Maureen klingelte und ich ging zur Tür und machte ihr auf. »Hi!« Sie verstellte die Stimme, sprach so tief sie konnte: »Hi. Are you my date?« Ich bat sie herein. Stan und Hazel saßen nebeneinander auf dem Sofa, sahen aus wie frisch geduscht, erhoben sich und gaben Maureen die Hand. Das zehnminütige Gespräch, das nun folgte, war eine Mischung aus Verhör und Herzlichkeit. Mir war das etwas unangenehm, aber Maureen schien sich nicht zu wundern und beantwortete alle Fragen. So erfuhr ich lauter Dinge über sie, die ich noch nicht wusste. Sie war gar nicht aus Wyoming! Kam aus Baltimore. Lebte aber schon seit über fünf Jahren in Laramie. Ihr Vater war Dozent am College of Technology und ihre Mutter hatte anscheinend irgendetwas mit Politik zu tun. Sie sprachen über meinen Kopf hinweg, schnell, ich verstand nur jedes dritte Wort, und für einen Augenblick kam es mir so vor, als würde auf einem Basar über meinen Preis verhandelt. Don kam aus seinem Zimmer. Blieb in der offenen Tür stehen, lehnte sich an den Türpfosten und musterte Maureen. Sie sah ihn an und sagte: »Hi, I’m Maureen!« »Hi, I’m Don. I live here, too. Nice jacket.« »Thanks. It’s from the Indie 500!« »I know that!«
    Ich war froh, als ich endlich neben ihr im Auto saß und wir in die Stadt fuhren. Was würde jetzt geschehen? Würden wir wirklich in ein Restaurant fahren? Ich hörte ein Geräusch, nicht den Motor, ein kaum wahrnehmbares, schabendes Kratzen. Es klang wie ein winziges Tier, das mit messerscharfen Krallen über Glas läuft. Maureen bog von der Hauptstraße ab. Links und rechts geschmackvolle Häuser, wie ich sie bis jetzt in Laramie noch nicht gesehen hatte. Hier lag lange nicht so viel Schnee wie draußen in unserer Westernsiedlung. Wir erreichten eine große Auffahrt. Sie sagte: »That’s our place! Come on. Let’s make it short!« Wir gingen ins Haus und betraten ein weitläufiges Vorzimmer, von dem aus eine Mamortreppe nach oben führte. Der Boden war bedeckt mit Schuhen. Turnschuhe in allen Variationen, Herrenschuhe und Fellstiefel, hochhackige Damenschuhe, Ballettschläppchen und Skistiefel. Ich fand einen freien Platz. Das Haus war erfüllt von ohrenbetäubendem Krach. Was genau woher kam, war nicht zu orten. Ich hörte klassische Musik, asiatische Kampfschreie, hysterische Zeichentrickfilmstimmen und etwas, das wie ein Presslufthammer klang. Maureen brüllte: »Mooom! Daaaad!« Doch bevor Mom und Dad kamen, rannten zwei ungefähr zehnjährige Jungen um die Ecke, gefolgt von einem etwa dreizehnjährigen Mädchen. »These are my brothers and my sister«, sagte Maureen. »Don’t talk to them, they are crazy!« Ein Mann mit strubbeligen Haaren kam den Flur entlang, gab mir im

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