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Alle Tränen dieser Erde

Alle Tränen dieser Erde

Titel: Alle Tränen dieser Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian W. Aldiss
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konnten. Nun würden sie es erfahren.

Angstträume
     
     
     
    I. Jupiter. Mit zunehmender Vertrautheit sah er, daß die langsamen Windungen nicht bedeutungslose Bewegung, sondern schwerfällige und bewußte Gestik waren.
    Ian Ezard hatte kein Bewußtsein mehr von sich selbst. Das Panorama saugte ihn ganz in sich auf.
    Was zuerst eine Verschwommenheit ohne Bedeutung gewesen, hatte sich in eine Anordnung von träg dahintreibenden Lichtern aufgelöst. Die Lichter bildeten nun Muster, wurden leuchtende Schwingen oder phosphoreszierende Wirbelsäulen oder schillernde Gliedmaßen. Im Vorbeiziehen hörte das mühsame Arbeiten dieser Fittiche auf, wahllos zu wirken, und nahm allen Anschein der Absichtlichkeit – des Geplanten – des Bewußtseins an! Noch war der Hintergrund, in dem sich die Muster bewegten, länger ein Chaos; als Ezards Sinne sich der Szene anpaßten, nahm er eine Umwelt wahr, die ebenso von ihren eigenen Gesetzen beherrscht wurde wie jene, in die er hineingeboren worden war.
    Mit dem Nachlassen des ersten Entsetzens und Schreckens konnte er genauer beobachten. Er sah, daß die Lichtorganismen sich bewegten über und zwischen – wie sollte man sie nennen? Bollwerke? Befestigungen? Wolkengebilde? Sie waren nicht deutlicher abgezeichnet als Sandbänke, die Nebel einhüllt, aber ihn verfolgte ein Gefühl ausgeklügelter Einzelheiten knapp über dem Auflösungsvermögen seiner Netzhäute, so, als erblicke er auf Flottillen barocker Kathedralen, die ein wenig zu tief unter durchscheinendes Wasser gesunken waren.
    Er dachte mit unerwarteter Geistesverwandtschaft an Lowell, den Astronomen, der eingebildete Marskanäle hatte auftauchen sehen – aber sein eigener Aussichtspunkt war viel begünstigter.
    Der Maßstab der grandiosen, heiteren, feierlichen Prozession vor seinen Blicken machte ihm Schwierigkeiten. Er ertappte sich dabei, daß er das Unbekannte mit Bekanntem auszudrücken versuchte. Diese Organismen erinnerten ihn an die leuchtenden Skelette terrestrischer Städte bei Nacht, aus der Stratosphäre gesehen, oder an Haufen von Kieselalgen, die in einem Tropfen Wasser schwebten. Es fiel schwer, sich daran zu erinnern, daß die lebenden Geometrien, die er betrachtete, jede von der Größe einer großen Insel waren – vielleicht zweihundert Meilen Durchmesser.
    Noch immer lauerte Entsetzen. Ezard wußte, daß er die Infrarotkameras nur zu justieren brauchte, um Meilen tiefer in die Jupiteratmosphäre zu blicken und – Leben? – Bilder? – anderer Art zu finden. Bis heute hatte die Jupiter-Expedition sechs Ebenen von Lebens-Bildern erforscht, jede Ebene von der anderen beinahe so klar getrennt wie Meer von Luft, durch Druckgefälle, die andere chemische Zusammensetzungen verlangten.
    Schicht um Schicht ging es hinunter, langsam umrührend, hinab, weit jenseits der Wahrnehmbarkeit in das schlammige Herz der Protosonne! Waren alle Schichten voll von zumindest den Spuren und Schimären des Lebens?
    »Es ist, als blicke man hinab in den menschlichen Geist!« entfuhr es Ian Ezard; vielleicht dachte er an das Gehirn von Jerry Wharton, seinem konfusen Schwager, Ungeheurer Druck, ungeheures Dunkel, schreckliche Weisheiten, äonenlange Gewitterstürme – die Parallele zwischen den atmosphärischen Tiefen des Jupiter und dem Geist war zu beunruhigend. Er setzte sich auf und schob den Sichthelm zurück auf seinen Drehbügel.
    Der Beobachtungsraum schloß sich wieder um ihn, unveränderbar, erschöpfend vertraut.
    »Mein Gott!« sagte er und wischte sich schlaff das Gesicht. »Mein Gott!« Und nach einer Pause: »Bei Jupiter!« zu Ehren der ungeheuerlichen Protosonne, die wie ein Wal unter ihrem Raumschiff schwamm. Der Schweiß lief an ihm herunter.
    »Wahrlich ein Schauspiel«, sagte Captain Dudinzew und gab ihm ein Handtuch. »Und jede von den sechs Schichten, die wir erkundet haben, hat mehr als das Hundertfache an Fläche wie die Erde. Wir nehmen das meiste auf Band. Ein Teil der Befunde wird jetzt schon zur Erde gesendet.«
    »Man wird überschnappen!«
    »Leben auf dem Jupiter – wie kann man es anders nennen als Leben? Das wird Rußland und Amerika und die ganze Westciv härter treffen als jede andere wissenschaftliche Entdeckung seit der Fortpflanzung!«
    Ezard blickte auf seinen Armbandcomputer und stellte fest, daß er sechsundachtzig Minuten im Sucher gewesen war.
    »Oh, das ist ganz eindeutig Bewußtsein. Unser ganzes Denken wird damit auf den Kopf gestellt. Nicht nur enthält der Jupiter, abgesehen

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