Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
davon abkriegte, bevor ich ins Bett geschickt wurde.
Der Kreisgymnasiumsdirex Berthold hatte eine teuflische Idee: Alle Eltern, die sich dafür interessierten, sollten im September zwei Tage lang die Möglichkeit haben, sich beim Unterricht in die Klasse zu hocken. Ein Formular wurde ausgeteilt, auf dem sich die Eltern namentlich eintragen konnten. Ich packte dieses Blatt zuhause aus und handelte mir einen Riesenstreit mit Mama ein, denn ich hatte gedacht, sie würde das Drecksding sofort zerknüllen, aber sie nahm das alles ganz ernst und wollte persönlich in der Klasse aufkreuzen.
»Und wie steh ich dann vor meinen Mitschülern da, wenn du die einzige bist, die sich da breitmacht?«
»Nun red doch nicht solchen Quatsch! Da gehen doch auch noch andere Mütter hin! Und was soll das überhaupt heißen, daß ich mich da breitmache? Das ist ja wohl mein gutes Recht, wenn ich von deinem Schuldirektor dazu aufgefordert werde, in aller Form! Und nun halt gefälligst dein Maul! Das wird ja wohl noch erlaubt sein, daß ich mir ein Bild von der Qualität deines Unterrichts mache, nachdem ich dir zweitausendmal den Frühstückstisch gedeckt hab!«
Zweitausendmal? Ich rechnete nach. Das konnte hinkommen, okay, doch das gab Mama trotzdem nicht das Recht, mich vor der ganzen Klasse zu blamieren.
Hermann hatte sich Gedanken über die bevorstehende Klimakatastrophe gemacht und sich ein Patentrezept gegen das schmelzende Polareis und den steigenden Meeresspiegel ausgedacht: »Man könnte doch irgendwie das überschüssige Wasser von den Küsten in die wachsenden Wüsten umleiten, und schon wäre allen geholfen.« Es müßten einfach Kanalrohre verlegt werden, von der Nordsee bis zur Sahara. Das wäre ein gigantisches Industrieprojekt und würde Tausende von Arbeitsplätzen schaffen. »Die Wüste wird grün, Holland ist nicht mehr in Not, die Arbeitslosenrate sinkt, und die Wirtschaft boomt. Und schon hat man vier Fliegen mit einer Klappe geschlagen!«
Meinen Einwand, daß den Wüstenbewohnern der Salzwasserzufluß von der Nordhalbkugel unwillkommen wäre, tat Hermann ab: »Dann müssen da eben Meerwasserentsalzungsfabriken gebaut werden. Zu Hunderten! Und das bedeutet – noch mehr Arbeitsplätze, noch mehr Wirtschaftswachstum und noch mehr Steuereinnahmen für den Fiskus. Steigendes Bruttosozialprodukt – sinkender Meeresspiegel! Die Afrikaner kriegen destilliertes Süßwasser, und unsereiner kann in den Handel mit Meersalz einsteigen ...«
»Unsereiner?«
»Wir Europäer! Die Herrenrasse!« Er trommelte sich auf die Brust. »Wir tragen doch die Verantwortung für die Geschicke der Welt! The white man’s burden! Schon vergessen? Nimm mal Haltung an, du Schlaffi!«
Mama hatte sich den neuen Romanklotz von Günter Grass gekauft. »Der Butt«. Darüber würde ich mich demnächst wohl ebenfalls hermachen müssen, wenn ich mitreden wollte. Fragte sich nur mit wem.
Auf höhere Weisung wanderten wir von der Schule aus als ganzer Jahrgang zum Residenz, wo ein Dokumentarfilm über Adolf Hitler lief. In einer Szene war die Erschießung von Juden zu sehen. Die Leichen sackten zusammen und fielen in ein Massengrab, und aus einer der hinteren Sitzreihen rief irgendein Arsch: »Ey, da passen aber noch ’n paar mehr von denen rein!«
Von der Elternversammlung brachte Mama Informationen über eine geplante Klassenfahrt mit. Die 10b und noch eine andere Klasse sollten im September nach Rheinland-Pfalz ausrücken, in eine Jugendherberge in einem Kaff namens Hermeskeil.
Da konnte man nur hoffen, daß der Herbergsvater mit einer soliden Unfallversicherung handelseinig geworden war.
Die Kripo hatte im letzten Moment einen Anschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vereitelt.
»Die Terroristen haben da ’ne Stalinorgel aufgestellt«, sagte Papa, und mir war nicht ganz klar, ob er die Terroristen als Staatsfeinde verachtete oder ihrem technischen Know-how Respekt zollte.
In der DDR war der kommunistische Systemkritiker Rudolf Bahro verhaftet worden, obwohl die Verfassung das Recht auf Meinungsfreiheit garantierte. Wer da drüben den Mund aufmachte, der wurde hopsgenommen und eingebunkert.
Was dazu der alte Karl Marx wohl gesagt hätte.
»Das Sein bestimmt das Bewußtsein«, schrieb der Hilbrich in Sozialkunde an die Tafel, und er wollte wissen, was wir darüber dächten.
Wenn das Sein das Bewußtsein bestimme, sagte ich, dann bestimme das Bewußtsein auch das Sein. Das könne man nicht voneinander trennen.
»Sie
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