Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
meinen also, daß darunter kein kausaler Zusammenhang zu verstehen ist, sondern ein dialektischer Prozeß?«
»Ja, genau.«
Der Hilbrich kritzelte was in sein Notizbuch, und als es zur Pause geläutet hatte, sagte er zu mir: »Herr Schlosser, Sie besitzen die Fähigkeit, in Strukturen zu denken ...«
Das wäre mir ebensogut runtergegangen, wenn der Hilbrich mich geduzt hätte, aber mit dem Duzen war’s vorbei. Selbst der Wolfert mußte unsereinen jetzt siezen.
Auf dem Bökelberg empfing Gladbach mit dem TSV 1860 München einen der ältesten Fußallvereine Deutschlands, der vor einer Ewigkeit mal ganz oben mitgespielt hatte und jetzt an seine ruhmvolle Vergangenheit anknüpfen wollte. Der Sieg über diese Aufsteigermannschaft, der für den Meister eine Ehrensache war, fiel mit 2:1 nicht sonderlich glanzvoll aus.
Mama ersann Bildunterschriften für das große Album mit den Fotos aus Venezuela.
Die untere Terrasse – im Efeu ein Kolibri-Nest.
Kaum zu erkennen: Pelikane im Flug.
Da bestimmte das Bewußtsein das Bewußtsein, ohne daß es unterwegs zu irgendeinem nennenswerten Sein gekommen wäre. Denn was hatte Mama denn nun eigentlich von ihrem Urlaub, außer einem Haufen langweiliger Fotos?
Papa wollte aufs obere Klo und rüttelte an der Klinke, aber da hatte sich Wiebke häuslich niedergelassen. »Der Schnelle Brüter ist besetzt«, sagte ich zu Papa, und er starrte mich so böse an, als ob ich ihm ins Gesicht gefurzt hätte. In dieser Familie konnte man sich nicht den kleinsten Spaß erlauben.
Im Waldstadion ließ Gladbach sich von der Eintracht mit 4:2 einseifen. Es durfte doch wirklich nicht wahr sein. Wo war sie hin, die einst so berühmte Auswärtsstärke der Fohlenelf?
Mitten in der Mathestunde drehte irgendwer im Innenhof sein Kofferradio auf.
Oh, baby, baby, it’s a wild world
It’s hard to get by just upon a smile ...
»Cat Stevens«, sagte Tanja Gralfs, und alle lachten, außer Michaela Vogt. Die lachte nie.
Die litt wohl an einem geheimen Kummer.
Im Dritten lief abends ein 1967 gedrehter Bordellfilm von Luis Buňuel, aber ohne nackte Frauen. Dafür war es 1967 wohl noch zu früh gewesen.
Der Bohnekamp holte sich in der großen Pause in der Verbraucherzentrale das neueste Heft der Stiftung Warentest. Da war er ganz heiß drauf.
Getestet worden waren Hifi-Kompaktanlagen, Waschmaschinen, Kinderwagen, Multivitamintabletten und Brat- und Frittierfette, aber den Bohnekamp interessierten nur die Kompaktanlagen.
Mamas neue war auch dabei. Qualitätsurteil: gut. Die Veränderung der Sollgeschwindigkeit des Rekorders nach 100 Stunden sei allerdings weniger zufriedenstellend.
Gegen Kaiserslautern lag Gladbach noch zwölf Minuten vor Schluß mit 2:1 vorn, aber dann düpierte Toppmöller die Fohlen und verwandelte eine Torchance zum 2:2-Endstand. Es machte keinen Spaß mehr, Gladbach-Fan zu sein, wenn man den Verein so schwunglos herumeiern sah, ohne Fortune und Siegeswillen.
In der Nacht träumte ich, daß ich wieder zum Training gegangen und von Uli Möller als Mittelstürmer aufgestellt worden sei.
Den neuen Roman von Günter Grass hatte Mama ausgelesen oder jedenfalls so getan als ob. Ich nahm den »Butt« dann in die Badewanne mit. Ein Kapitel hieß »Der Arsch der dicken Gret«. Der sei so groß gewesen »wie zwei volkseigene Kollektive«. Der dicken Gret beleckte der Erzähler,
damit alles weich und tränennaß wurde, das Arschloch und was sonst anrainte, wie eine Ziege (hungrig nach Salz) ...
Arschlecken mochte ja Geschmackssache sein, aber wieso hätte das Arschloch dabei tränen sollen? Hätten da nicht andere Drüsen sitzen müssen?
Als die dicke Gret einen Furz fahren ließ, weil ich sie zu spitzfindig geleckt hatte, nahmen wir beide das bißchen Gegenwind hin.
Kaum zu glauben, daß das Mamas jüngste Bettlektüre gewesen war. Papa wußte davon wahrscheinlich gar nichts.
Mit den Hinterteilen hatte es Günter Grass irgendwie. Das ging auch aus einem Gedicht in dem Roman hervor:
Wir wollen jetzt (laut Beschluß) jeder vereinzelt essen
und in Gesellschaft scheißen;
steinzeitlich wird Erkenntnis möglicher sein.
Was das alles sollte und worum es überhaupt ging, außer ums Scheißen, ums Vögeln und ums Fressen, verstand ich nicht.
Einmal hatte auch die E-Stelle ihren Tag der Offenen Tür, und Papa chauffierte Mama, Volker, Wiebke und mich auf dem ganzen Gelände herum. Ich wäre lieber zuhausegeblieben, statt mir vom Auto aus irgendwelche Geschoßfänge, Baracken und
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