Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Rainer Barzel, von Onkel Dietrich ein schlaues Buch über wissenswerte Tatsachen aus allen Gebieten und dazu noch einen Zehnmarkschein von Tante Lena aus Bad Sassendorf. In ihrem Brief wünschte sie mir alles Gute, und dann legte sie los:
Sag Deiner lieben Mutter und Deinem Vater, daß sie mir nicht böse sein sollen wegen meiner Schweigsamkeit; denn die letzten Wochen waren sehr schwer für mich, so daß mir alle Lust zum Schreiben fehlte. Denn das Leben hier ist voller Leid und würde ich, wenn ich besser zu Fuß wäre, weit weg laufen. Ich will mich aber bessern und in Zukunft mehr von mir hören lassen. Schreib mir bitte einmal von Euch allen, denn mein Leben verläuft sehr einsam und geistlos. Mir fehlt oft jeglicher Lebensmut. Doch ich will nicht klagen, denn es gibt noch schwerere Leiden. Ich bitte Gott immer um Barmherzigkeit und Geduld. Für heute will ich aufhören, denn meine Hand tut zu weh. Verzeih die unsaubere Schrift ...
Tante Lena war alles andere als eine Stimmungskanone.
In einem der neuen Songs von Leonard Cohen ging es um den Seitensprung einer Geliebten:
The walls of this hotel are paper-thin
Last night I heard you making love to him
The struggle mouth to mouth and limb to limb
The grunt of unity when he came in ...
Wenn es stimmte, was er da sang, war er aber gar nicht eifersüchtig, sondern überglücklich:
In fact a burden lifted from my soul
I learned that love was out of my control ...
Das wirkte doch weitaus vernünftiger als die Einstellung der Beatles, die gesungen hatten:
I’d rather see you dead, little girl,
than to be with another man.
Ich beschloß, mich in meinem Liebesleben später so wie Cohen zu verhalten. Keine Eifersucht – keine Probleme. Das würde wahrscheinlich auch Michaela Vogt begreifen.
Über Cohen und die Beatles stand kein Wort in dem Nachschlagewerk von Onkel Dietrich, aber sonst so ziemlich alles – daß die Erde vor rund 3100 Millionen Jahren erkaltet sei, daß es im Karbonzeitalter Riesenlibellen mit einer Flügelspannweite von 0,7 m gegeben habe, daß das Galmeitätschelkraut auf zinkhaltigen Böden gedeihe und daß altenglische Kampfhühner jährlich achtzig Eier legten. Oder wer wann was erfunden hatte: Peter Henlein 1510 die Taschenuhr, Benjamin Franklin 1752 den Blitzableiter und Alfred Nobel 1867 das Dynamit. Und nach diesem Typen war der Friedensnobelpreis benannt worden!
In einer Tabelle zur Literaturgeschichte standen die wichtigsten Werke der Weltliteratur, angefangen mit babylonischen und assyrischen Hymnen und dem Gilgamesch-Epos. Das gab es als Reclamheft, und ich bestellte es mir. Von da aus wollte ich mich dann systematisch durch die Weltliteratur bewegen.
Das Fensterchen, durch das man sehen konnte, wie weit eine Kassette schon abgespult war, hatten die Hersteller des Radiorekorders vollidiotischerweise dunkelbraun getönt. Diese Leute mußten ihren Verstand am Hintern haben.
Zur Feier der Tatsache, daß ich jetzt in Kneipen ganz legal Bier trinken durfte, lud ich Hermann, Ralle und den Bohnekamp am Samstag nach der letzten Stunde in die Stadtschänke ein und gab ’ne Runde aus.
»Denn man Prost«, sagte Ralle, als die glänzenden Halbliterkrüge vor uns standen, goldgelb funkelnd und mit perfekt geformter Schaumkrone versehen. »Probieren geht über Studieren!«
Das traf den Nagel auf den Kopf.
Der Bohnekamp regte sich dann über die Feiertage auf, die es nur in anderen Bundesländern gebe: »Heilige Drei Könige, Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen, das ist doch ungerecht, daß wir an allen diesen Tagen zur Schule müssen, während sich die Faulsäcke da in Bayern oder Baden-Württemberg ’n Lenz machen ...«
Wir diskutierten über den Katholizismus, und Hermann berichtete, daß sein Bruder heimlich aus der Kirche ausgetreten sei, an seinem Studienort. Davon habe dann aber der Gemeindepfarrer in Rütenbrock Wind bekommen. »Und der hat nichts eiligeres zu tun gehabt, als zu meinen Eltern hinzulaufen und denen das brühwarm zu erzählen. Und meine Mutter weint jetzt jedesmal, wenn sie an meinen Bruder denkt, weil sie glaubt, daß er in die Hölle kommt. Oder jedenfalls ins Fegefeuer.«
»Das klingt ja alles nicht so gut«, sagte Ralle, und sehr viel mehr ließ sich dazu wohl auch nicht sagen. So wie’s aussah, hielt die rückständige emsländische Landbevölkerung an einem Aberglauben fest, der ihr vor tausend Jahren oder wann von fanatischen Missionaren aufgenötigt worden war, und Hermanns Bruder konnte
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