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Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)

Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)

Titel: Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Henschel
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einen Zehner als Obolus entrichten, und ab ging’s.
    Von den Leuten, die im gleichen Bus wie ich saßen, kannte ich keinen. Einer hatte »die Info«, daß das Verbot der Demo aufgehoben worden sei, und ein anderer sagte, daß wir sowieso nicht bis zum Bauzaun durchkämen. »Die Bullen haben da alles hermetisch abgeriegelt …«
    Hermetisch? Das hieße ja luftdicht. Ich dachte kurz darüber nach, den Irrtum aufzuklären, doch wozu?
    Lausig kalt war’s in dem Bus.
    Ich aß Butterbrote und las Tucholsky. 1927 hatte er den voreingenommenen deutschen Richterstand kritisiert und einen Blick in die Zukunft geworfen:
    Angemerkt mag sein, daß der heutige Typus noch Gold ist gegen jenen, der im Jahre 1940 Richter sein wird. Dieses verhetzte Kleinbürgertum, das heute auf den Universitäten randaliert, ist gefühlskälter und erbarmungsloser als selbst die vertrockneten alten Herren, die wir zu bekämpfen haben. Während in der alten Generation sehr oft noch ein Schuß Liberalismus, ein Schuß Bordeaux-Gemütlichkeit anzutreffen ist, ein gewisser Humor, der doch wenigstens manchmal mit sich reden läßt, lassen die kalten, glasierten Fischaugen der Freikorpsstudenten aus den Nachkriegstagen erfreuliche Aspekte aufsteigen: wenn diese Jungen einmal ihre Talare anziehen, werden unsere Kinder etwas erleben.
    Auch mit dieser Prognose hatte Tucholsky ins Schwarze getroffen. Man wußte ja, wie die Richter im Dritten Reich mit den Angeklagten umgesprungen waren. In einer Fernsehsendung über den 20. Juli hatte ich den Volksgerichtshofpräsidenten Roland Freisler mal schreien gehört: »Sie sind ja ein schäbiger Lump!« Und das zu einem Widerstandskämpfer, der zu seiner Verteidigung auf die vielen Morde der Nazis verwiesen hatte.
    Der Landstrich, wo die Reise endete, nannte sich Wilstermarsch, und es gab weit und breit kein AKW zu sehen. Nur verharschte Felder, kahle Baumgerippe, eisverkrustete Pfützen und versprengte Rudel von Demonstranten mit Ostfriesennerzen und Palästinensertüchern. Manche hatten auch Motorradhelme auf.
    Ich schloß mich einem Grüppchen an, das ungefähr zu wissen schien, in welche Richtung man trotten mußte. Leichtsinnigerweise war ich ohne Handschuhe und Schal und Mütze aufgebrochen. In der Wilstermarsch hatten die steifen Brisen freien Auslauf, und mir froren die Ohren.
    Windstärke 7 oder so. Wie sollte man sich dabei ’ne Zigarette drehen?
    Nach fast zwei Stunden mühevoller Wanderschaft durchs Ödland tauchte am Horizont ein Gebilde auf, das sich als Polizeisperre entpuppte. Wer da durchwollte, mußte sich filzen lassen. In der Nähe stand ein Mann auf der Ladefläche eines Lieferwagens und babbelte in ein Megaphon. Das war Jo Leinen, der bekannte Umweltaktivist.
    Neben mir schmiß einer Steine auf die Polizisten. Den versuchte ich daran zu hindern. Es sollte doch gewaltfrei demonstriert werden!
    »Versuch mal, ganz gewaltfrei die Atomkraft abzuschaffen!« schrie er mich an und riß sich los. »Die müssen wir plattmachen, die Bullen! Und den Bauplatz stürmen! Heute oder nie!«
    Jo Leinen äugte kurz auf uns herab und rhabarberte dann wieder in sein Megaphon. Verstehen konnte man kein Wort. Der sollte die Backe halten.
    Ich ließ mich nach Waffen durchsuchen, passierte die Sperre und fand mich abermals in einer Winterwüste unter bleierner Bewölkung wieder. Flache Ackerschollen, so weit das Auge reichte. Und noch immer zeichnete sich nirgends irgendwas auch nur entfernt Atomkraftwerksähnliches ab.
    Was wäre quälender – umkehren und zuhause nicht das kleinste bißchen zu erzählen haben oder sich mit letzter Kraft zum Bauzaun schleppen? Und unter Wasserwerferbeschuß geraten?
    Auf dem Rückmarsch durch die Walachitze keuchte mir der Wind noch fieser ins Gesicht.
    Neben dem abgeschlossenen Kleinbus mußte ich dann ewig auf die restlichen Meppener warten, und als sie ankamen, übertrumpften sie sich gegenseitig mit ihren Fronterlebnissen: Die Polizeihubschrauber seien regelrecht niedergestoßen, um die Menge auseinanderzutreiben, und es sei auch Tränengas eingesetzt worden. »Und wie die Bullerei geknüppelt hat!« rief einer dieser Helden. »Volle Kanne, doh! Wir sind nur um Haaresbreite davongekommen!«
    Der Bus hing schon bald in dem zähflüssigen Verkehr fest. Staus bis hinter Hamburg. Stop-and-go. Und ich hing ausgelaugt auf meinem Sitz und hätte mal scheißen gemußt.
    In den Fernsehnachrichten über die Schlacht von Brokdorf habe sie erfolglos Ausschau nach mir gehalten, sagte Heike.

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