Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Abend im Moulin Rouge« auf dem Programm ( »Gala-Revue mit den Doriss Girls«), und ich hoffte, daß Papa sich vorher trollte, doch er schlief schon lange vorm Showdown am Rio Bravo in der Sofalandschaft ein und war zu nichts mehr zu bewegen.
Ein Heiko Meier habe angerufen und um einen Rückruf gebeten, sagte Mama, als ich zum Frühstück nach unten getorft kam. »Und deine Haare haben heute übrigens noch mit keinem Kamm Bekanntschaft geschlossen!«
Wie oft hatte ich das nun schon gehört?
Am Telefon wollte Heiko Meier nicht damit heraus, was los war. Er sagte mir nur, daß es um eine Angelegenheit von allerhöchster Dringlichkeit gehe und daß wir uns irgendwo treffen müßten, wo die Wände keine Ohren hätten.
Im Pub vertraute er mir dann im Flüsterton die Wahrheit an: Er müsse noch seine Klausur in Deutsch nachholen und dabei mindestens vier Punkte packen, sonst stehe sein Abitur auf der Kippe. »Und für diese vier Punkte bin ich zu schlecht! Das weiß ich! Alter, ey, ich kann dir sagen, ich hab meine Zwetschgen angestrengt wie Einstein, um von dem Theaterstück was zu kapieren, über das die Arbeit geht, aber das ist aussichtslos! Da kommt nichts bei rum!«
Langer Rede kurzer Sinn: Heiko Meier versprach mir drei halbe Liter Bier dafür, daß ich unter seinem Namen diese Arbeit schrieb, am Montagnachmittag, also in rund vierundzwanzig Stunden, über das mir noch unbekannte Stück »Andorra« von Max Frisch.
»Gelesen haste das wie nix, und so wie ich dich kenne, bringst du ’s locker auf zehn Punkte. Und dir kann absolut nichts passieren!«
»Bei wem hast du denn Deutsch?«
»Bei Grebe.«
»Nie gehört.«
»Na siehste! Und die Aufsicht bei dem Nachholtermin führt einer aus ’m Sekretariat, der uns beide nicht kennt.«
»Und woher weißt du, daß der uns nicht kennt?«
»Woher soll der uns kennen?«
»Und deine Handschrift? Soll ich die etwa nachmachen?«
»Brauchst du nicht. Der Grebe hat meine Handschrift noch nie gesehen. Der ist erst vor einer Woche als Vertretung eingesprungen …«
Ich sagte ihm, daß ich die Sache überschlafen müsse. Zugegeben, Heiko hatte mich in Mathe abschreiben lassen, aber das war ja wohl doch was anderes als ein generalstabsmäßig eingefädeltes Betrugsmanöver. Straftatbestand: Urkundenfälschung. Wenn ich damit aufflog, konnte ich mein Abitur vergessen.
In dem Stück ging es um einen unehelichen Jungen. In dem fiktiven Kleinstaat Andorra wird er zu seinem Schutz als Jude ausgegeben. Dann marschieren die Soldaten aus einem judenfeindlichen Nachbarland ein und erschießen ihn. Die Andorraner beteuern ihre Unschuld; nur die Schwester des Toten sieht überall Blut, und weil sie den Verstand verloren hat, weißelt sie die Hausmauern:
Ich weißle, ich weißle, auf daß wir ein weißes Andorra haben, ihr Mörder, ein schneeweißes Andorra, ich weißle euch alle – alle.
Mit dieser Anspielung auf die Schönfärberei hatte Frisch seinerseits dick aufgetragen. In Mamas Schauspielführer kam er trotzdem gut weg:
Sind Frischs Personen auch eine Sammlung antisemitischer Argumente und Verhaltensweisen auf zwei Beinen, so geraten doch selten Parabelfiguren in einer Modellwelt so menschenähnlich wie hier.
»Andorra« als Parabel: Darüber konnte man natürlich des langen und breiten salbadern.
Zur vereinbarten Zeit traf ich im Kreisgymnasium ein, wo Heiko Meier schon von einem Fuß auf den anderen trat.
»Die andern sind längst alle da!« rief er mir zu.
Und wenn ich einen Rückzieher gemacht hätte?
Ich mußte in den zweiten Stock, doch auf der Treppe wurde mir schwindlig, und ich hielt inne.
Heiko Meier trieb mich an: »Nich’ schwach werden! Du bist meine einzige Hoffnung!«
Irgendeinen Haken mußte die Sache doch aber haben? Angenommen, einer von den Schülern würde mich verpetzen, wenn ich angab, daß ich Heiko Meier sei?
»Das tut schon keiner!«
»Und wenn doch?«
»Wenn, wenn, wenn! Mensch, mach dir nich’ ins Hemd! Du gehst da einfach rein, lieferst die Arbeit ab und läßt dich dafür königlich von mir bewirten!«
Von oben linste irgendein Lehrer übers Geländer. Wir fielen auf. Noch länger konnten wir den Plausch im Treppenhaus nicht fortsetzen.
Na denn. Ich schritt, nachdem ich die Klassenzimmertür hinter mir ins Schloß gezogen hatte, zum Pult und teilte dem aufsichtsführenden Homo sapiens mit, daß ich ’ne Deutscharbeit nachschreiben müsse.
»Name?«
»Heiko Meier.«
Es war nicht zu überhören, daß ein Raunen durch den Raum
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