Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
um die ich mich mein Leben lang herumgeschummelt hatte. Dabei kam ich allerdings nicht weit.
»Aber das ist doch pipileicht«, sagte Silke Möller jedesmal, wenn ich die Nase kraus zog.
Auch nach einer Stunde war nicht das geringste bei mir hängengeblieben. Hier rein, da raus: Determinanten, Diagonalisierung, negative Potenzen und quadratische Matrizen …
Das würde ich niemals gebacken bekommen, und ich brach die Sache ab.
Ein Kinderspiel war die Abiturarbeit in Gemeinschaftskunde. Hinsetzen, schreiben, aufstehen, abgeben.
In Deutsch entschied ich mich für die Aufgabe, Franz Kafkas Prosatext »Heimkehr« zu analysieren.
Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte.
Den Flur deutete ich als Geburtskanal und die Pfütze als Symbol für das Fruchtwasser. Wozu hatte man schließlich Freud gelesen?
Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Zugang zur Bodentreppe.
Das Treppensteigen symbolisierte natürlich den Geschlechtsverkehr, und die Tatsache, daß die väterlichen Gerätschaften den Zugang zur Bodentreppe verstellten, legte die Vermutung nahe, daß der Erzähler sexuell repressiv erzogen worden war.
Die Katze lauert auf dem Geländer.
Katze? Ganz klar: weibliche Sexualität. Der Erzähler mußte sie als »lauernd« empfinden, weil er es nicht besser gelernt hatte.
Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind.
Zerrissenes Tuch = Jungfernhaut. Stange = Phallussymbol.
Ich war angekommen. Wer wird mich empfangen?
Damit konnte man die Empfängnis assoziieren. Erst gegen Ende hin wurde es schwieriger mit der Entschlüsselung der Sexualsymbole.
Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen.
Der nur schwach wahrnehmbare Uhrenschlag ließ sich als verklausulierte Erinnerung an die halbverdrängten Schläge des Vaters auslegen.
Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.
Das war die Lösung: Der Erzähler bereute die verräterisch deutliche Sexualsymbolik der ersten Sätze und drückte sich immer schwammiger aus, um seine sexuelle Natur vor der Familie zu kaschieren.
Auf die Note, die der Wolfert mir für diese halsbrecherischen Thesen geben würde, war ich echt gespannt.
Heike hatte die gleiche Aufgabe genommen, aber, wie sie sagte, »mehr was über Geworfenheit und Entfremdung verzapft«.
Im ZDF lief abends eine Show, in der ein Kraftprotz eine Wärmflasche aufblies, bis sie platzte. Und das ließen sich Millionen Zuschauer als Unterhaltung andrehen. Primitiver wär’s nicht mehr gegangen.
Als sie zurück war, legte Mama im Wohnzimmer eine ihrer Platten von Chopin auf und saß dann stumm und reglos auf dem Sofa, ohne auch nur die Stehlampe anzumachen. Es entsprach in keinster Weise Mamas Gepflogenheiten, einer so majestätisch trübseligen Klaviermusik nachzusinnen und durch die Gardine in die lautlos niedergehenden Schneeschauer zu kucken, doch es paßte zur Wetterlage.
Von dem Geld, das ich noch über hatte, kaufte ich mir Kurt Tucholskys Werke in zehn Bänden.
»Was karrst du ’n hier schon wieder an?« fragte mich Mama und zog über mein »fast krankhaftes Lesefieber« her. »Aber na, das wird sich später noch von selber auf Normalmaß reduzieren, wenn du erst im Berufsleben stehst …«
Auf so ein Berufsleben war gepfiffen.
In meinem Zimmer las ich mich fest.
Hunderttausende sind in Ackergräben verdreckt und verreckt und viele Knaben bluteten vor Ypern, weil einem General auf der fettgepolsterten Brust noch ein Orden fehlen mochte.
Wegen dieser Bilanz hatten die Kriegstreiber Tucholsky gehaßt, obwohl sie ungeschoren über die Niederlage hinweggekommen waren. 1921 hatte er eine weitere Bilanz gezogen, über die Rechtsprechung der letzten acht Jahre:
Für 314 Morde von rechts 31 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafe, sowie eine lebenslängliche Festungshaft.
Für 13 Morde von links 8 Todesurteile, 176 Jahre 10 Monate Freiheitsstrafe.
Das ist alles Mögliche. Justiz ist das nicht.
Aufschlußreich waren auch Tucholskys Einlassungen über Ostpreußen.
Die ganze Provinz ein
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