Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
man könnte von einer wahren Talentschmiede sprechen.«
»Das nenne ich Understatement! Aber jetzt mal was anderes: Astrid will mit mir nach Amsterdam, und wir wollten dich und Heike fragen, ob ihr mitkommt.«
»Ohne Glücksspiel?«
»Ohne Glücksspiel.«
Dann konnten sie mit uns rechnen.
»Sieh dich bloß vor«, sagte Papa. »Amsterdam ist ein ganz widerliches Pflaster. Besonders die Bahnhofsgegend!«
Mein Vater, der Globetrotter. Kannte Amsterdam wie seine Westentasche.
Im Zug packte Astrid ein Herrenmagazin namens High Society aus, das sie zum allgemeinen Gaudium mitgebracht hatte. »Der reinste Giftmüll! Hier, die nackte Nina Hagen mit schwangerem Bauch. Wie geil!«
Mich interessierte mehr, wie sich Astrids Studium anließ und ob sie da Menschenleichen zersägen mußte.
»Bio is’ ganz easy«, sagte sie. »Da braucht man bloß darauf zu achten, daß man beim Pipettieren keine Bakterien schluckt. Und die Anatomie – die umschiffe ich, so gut’s halt geht. Lieber ’ne ganze Leiche als zwei oder drei abgeschabte Füße oder in Kunstharz eingegossene halbe Köpfe. Ich kann ja nich’ dauernd mein Mittagessen verschenken …«
Heike sagte, sie wisse von Ärzten, daß die totale Angst davor hätten, selber mal unters Messer zu müssen. Denen sei eben der ganze Scheiß, der bei Operationen laufe, nur zu gut vertraut. Und Bestattungsunternehmer würden Toten die Knochen brechen, wenn der Sarg zu klein sei. Aber der Firmenname laute dann »Pietät«.
Nachdem wir auf dem angestammten Campingplatz Fuß gefaßt hatten, wollten Heike, Astrid und Hermann zum Paradiso, einer Großdiscothek, in der man angeblich auch Dope kaufen konnte.
Ich war dafür zu abgeschlafft von der Reise. Und was sollte ich in ’ner Disco? Ich blieb im Zelt und las Brinkmann.
The Platters, Only You, hohe Falsett-Stimmen, hohe weiche Negerstimmen, langsam und zu süß, die Süße einer Schallplattenmusik, die sich vermischt mit den vagen Träumen und Vorstellungen eines 16jährigen Jungen in einer norddeutschen Kleinstadt, abends, wo nichts geschieht, niemals etwas geschehen wird, niemals etwas geschehen kann, in der Stille eines nassen leeren Frühlingsabends mit den verlassenen, liegengelassenen kleinen Gärten, die in Nässe versinken …
So war es Brinkmann in Vechta ergangen. Genauso wie mir in Meppen, zwei Jahrzehnte später.
Von dem Stoff aus dem Paradiso schwoll mir die Zunge an, und dabei fiel mir wieder was aus meiner Kindheit ein, nämlich daß ich das Kirchenlied »O daß ich tausend Zungen hätte« nicht gemocht hatte. Wer wollte schon tausend Zungen im Maul haben?
Astrid konnte das Kirchenlied »Lobe den Herren« auswendig.
In wieviel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet!
Dann ging leider das Zigarettensplitting wieder los: »Läßt du mich mal bei dir ziehen?«
In einem Koffiehuis legten wir am Vormittag die Marschroute fest: Stedelijk-Museum, Vondelpark und van-Gogh-Museum. Ein bescheidenes Pensum, wie man hätte glauben können, aber diese Museumsbesuche waren Fulltime-Jobs, und mir schwanden irgendwann die Sinne vor lauter Picassos, Cézannes, Renoirs, Monets, Kandinskys und Chagalls.
Das beste Bild von van Gogh hieß »Die Kartoffelesser«. Da sah man mal die arbeitende Bevölkerung bei Tisch – eine wohltuende Alternative zu den klassischen Potentatenporträts und auch zur gegenstandslosen Malerei à la Kandinsky.
Wenn er sich recht entsinne, sagte Hermann, dann habe van Gogh sich ein Ohr abgeschnitten.
Als Tafelmusik hatten wir Hermanns John-Lennon-Kassetten, die auch gut zum Kiffen paßten.
I see the wind,
Oh I see the trees,
Everything is clear in my heart …
Heikes Pupillen waren geweitet und so dunkel und so rund wie Brunnenschächte.
Astrid las uns nach dem Frühstück einen Absatz aus dem Buch »Physik für Mediziner« vor. Was alles schwingen könne – nicht nur Uhrenpendel, Klaviersaiten und Stimmbänder, sondern auch der Viehbestand im sogenannten Schweinezyklus:
Hier ist das, was schwingt, die Anzahl der schlachtreifen Schweine.
Es sei schade, sagte Hermann, daß der Verfasser sich nicht auch über das Schwingen der Anzahl schlachtreifer Naturwissenschaftler geäußert habe.
Dann das Tropenmuseum: Feuerstellen, Hütten, Werkzeug, Waffen und Bekleidung der unteren zehntausend Volksstämme. Vom Band gab es Aufnahmen von deren Musik zu hören. Einerseits ganz rohe und naturbelassene Stücke und andererseits welche, die als »verwestered« galten, also als
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