Alle Vögel fliegen hoch
Fenster hinaus, wo der Apfelbaum sich sacht im Wind wiegte, als winke er uns zu. »Der hat weg müssen. Dringend.«
»Und wohin?«
»Ja, wie’s is, wenn’s pressiert.«
»Aber er muss doch was mitnehmen von seinen Sachen!«
»Das gibt’s manchmal, dass einer geht und nichts mitnimmt, weil er nichts mehr braucht.«
»Das klingt, als hätten Sie so was schon öfter erlebt?«
»Wir vermieten scho lang. Man kann nicht reinschaun in die Leut.«
»Da liegt ein Zehneuroschein«, wies ich in eine Ecke, als wäre das ein Beweis dafür, dass der Mieter zurückkommen würde.
»Ja, dann nehm ich den gleich mal an mich«, beschloss Herr Widmann, »für die Stromabrechnung.«
Fassungslos schaute ich ihm zu.
»Ma muas ned ois glaum, wos stimmt«, stellte Herr Widmann fest, räusperte sich und wechselte in sein ungelenkes Hochdeutsch.
»Das braucht Sie gar nicht kümmern, Frau Fischer«, beruhigte er mich und zeigte damit, dass er ein guter Beobachter war, besser gesagt: Ich war eine schlechte Schauspielerin. »Sie kriegen das Haus leer und sauber und frisch gestrichen. Ich mach das. In zwei Wochen können Sie es haben.«
»Entschuldigung«, begann ich zaghaft, »aber es sieht aus, als wäre hier eingebrochen worden!«
»Eingebrochen? Bei uns? Das ist unmöglich.«
»Aber wo Ihr Rex doch tot ist.«
»Der Rex war kein Wachhund. Der Rex war ein alter Dackel.«
»Siebzehn«, ergänzte Frau Widmann von der Haustür aus, ehe sie Richtung Haupthaus schlurfte. Ihre Schultern zuckten.
»Trotzdem sieht es hier so aus, als …«
Herr Widmann fiel mir ins Wort: »Hier passiert nichts. Hier ist alles sicher. Der Hase war …, also Fuchs und Has sagen sich gute Nacht bei uns, sonst treffen Sie hier niemand, der nicht hierhergehört. Sie brauchen keine Angst nicht haben. Und Sie haben ja Ihren Flipper. Flipper und Fischer. Da haben Sie sich einen pfundigen Fisch geangelt.«
Das hatte noch niemand zu mir gesagt, und es nahm mich noch ein Stück weiter ein für Herrn Widmann. Ein gewisser Grad an Frechheit oder auch mal Dreistigkeit imponiert mir. Für blöd wollte ich mich allerdings nicht verkaufen lassen.
»Aber dass jemand in einem solchen Saustall lebt, ich meine …«
»Ja, ja. Sachen gibt’s. Der war so. Es gibt solche Leute. Die brauchen das. Wollen Sie sich jetzt mal umschauen?«, fragte Herr Widmann und versuchte mich freundlich anzulächeln, was in einer grotesken Grimasse endete.
Die zwei Zimmer im ersten Stock waren klein, maximal fünfzehn Quadratmeter. In einem befanden sich ausschließlich ausgestopfte Vögel, sie saßen auf Ästen und Seilen; manche von ihnen waren offensichtlich gefoltert worden. Ich nahm an, dass sie nicht gesungen hatten: Sie waren geköpft, ausgeweidet und zerfetzt. Holzwolle, Watte, Nähgarn und Bindedraht übersäten den Boden. Das Vermächtnis des Orikologen, dachte ich an Simon. Das andere Zimmer hatte
als Schlafzimmer gedient, die Matratze war zerstochen, der Kleiderschrank stand offen, und Berge von Klamotten, Handtüchern und Bettwäsche lagen auf dem Boden. Herr Widmann fühlte sich zu einem saloppen »Jeder, wie er es mag«, berufen. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er glaubte, das Haus leichter vermieten zu können, indem er dieses Chaos als normal darstellte, anstatt den Tod des Mieters und den Einbruch offenzulegen. Doch meine innere Stimme riet mir, mich geschmeidig den hiesigen Gegebenheiten anzupassen. Fremde Landkreise, fremde Sitten.
Das ausgebaute Dachgeschoss war atemberaubend. Alter Holzboden, viel Platz nach oben, eine Galerie über ein Drittel des Raumes, rund ummauerter Kamin, große Fenster. Ich fühlte mich wie in einem italienischen Landhaus und gewöhnte mich allmählich an den legeren Stil, der auch hier herrschte. Dutzende von Büchern und CDs auf dem Boden verstreut, Sofakissen aufgeschlitzt, rundherum weißer Füllstoff wie Schneebälle. Aber bitte – ich war flexibel. Wenn Herr Widmann Wert darauf legte, war das eben normal.
Obwohl ich mich anstrengte, gelang es mir nicht, meine Begeisterung über die Immobilie zu verbergen. Mein Gähnen und mein gelangweilter Blick aus dem Fenster schienen Herrn Widmann eher zu amüsieren, denn zu beunruhigen.
»Und was soll das kosten?«, fragte ich beiläufig.
»Tausend«, sagte er. Es klang wie eine Frage, und ich schätzte, dass sein Vormieter höchstens sechshundert Euro bezahlt hatte. Für meine Münchner Wohnung zahlte ich siebenhundert Euro kalt.
»Heizung?«, fragte ich.
»Öl und
Weitere Kostenlose Bücher