Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
Vom Netzwerk:
befahl mir: »Kommen Sie mit!«

    Verdutzt starrte ich in die Brennnesseln, die sich wie fleischfressende Pflanzen um ihre Beute schlossen.
    Es gibt Situationen im Leben, da fragt man nicht lange nach.
    »Der Hund!«
    »Flipper!«
    Herr Widmann hastete ans Ende des Gartens, Flipper und ich folgten ihm. Das Hexenhaus stand zwischen uns und dem BMW. Wenn die Insassen nicht in den Garten stürmen würden, waren wir sicher. Wovor?
    »Wo haben Sie geparkt? Sie sind doch mit dem Auto da?«
    Ich wies hinter mich. »Am Ortseingang.«
    »Kommen Sie ein andermal. Das Angebot steht. Aber jetzt ist es ungünstig.«
    »Aber …«
    »Wir kriegen gerade Besuch.«
    Herr Widmann schob mich wortlos durch ein grün gestrichenes Gartentürchen, das er so schnell zuwarf, dass er beinah Flippers Rute eingezwickt hätte, die begeistert durch die Luft peitschte. Flipper liebt Actionszenen. Ich eigentlich auch – wenn ich begreife, worum es geht. Das würden wir herausfinden. Wir pirschten uns von hinten durch den Garten von Simon an. Das Herz rutschte mir in den Unterleib, als ich erkannte, wer neben dem BMW stand. Der Kommissar! Mit einer blonden Pferdeschwanzfrau.
    »Platz«, flüsterte ich Flipper zu und drückte mich eng an die Wand von Simons Haus. Wenn Herr Widmann mich nicht so formvollendet verabschiedet hätte, wäre ich jetzt vielleicht einfach zum Kommissar geschlendert. Aber ich gedachte, hier vielleicht einzuziehen und mich deshalb an
die hiesigen Gebräuche zu halten: Bei Überraschungsbesuchen Kuchenteller in die Brennnesseln schleudern und unsichtbar machen. So lauteten die Spielregeln meines Vermieters, der mich keinesfalls dem Kommissar vorstellen wollte. Warum nicht? Warum glaubte er, mich verstecken zu müssen? Nein – er musste den Kommissar vor mir verstecken, denn ich sollte nicht erfahren, dass mein Vormieter ermordet worden war. Vielleicht spukte es in dem Hexenhäuschen? Wider alle Vernunft hatte ich keine geweihten Silberkugeln bei mir. Aber mein Käppi! Ich wühlte in meinem Rucksack und setzte es auf, eine genreadäquate Vorsichtsmaßnahme. Nicht, dass ich derzeit eine besonders auffällige Haarfarbe trug, saharablond ist nicht karottenrot. Ich allein könnte eine x-beliebige Spaziergängerin sein. In Begleitung von Flipper würde mich der Kommissar auch mit Käppi sofort identifizieren. Meine Rettung nahte in Form eines Pferdeanhängers, der zwischen mir und dem BMW geparkt wurde. Eine Frau und eine Teenagerin, beide in grauen Reiterhosen und schwarzen Stiefeln, stiegen aus. Sie winkten den Widmanns zu, sagten irgendwas und verschwanden zu den Pferdeboxen. Ich nutzte die Gelegenheit und rannte mit Flipper in Richtung des Hügels, wo ich zuvor mit Simon gestanden hatte. Als man mich vom Hof aus sehen konnte, befahl ich Flipper in sehr flachem Platz zu bleiben, hakte meine Daumen in die Rucksackgurte und gab mir den Anschein, eine harmlose Spaziergängerin zu sein. Ich verkleidete meine Körperspannung, ließ die Schultern hängen und schlurfte durch das hohe Gras, immer das Bild von Heidi aus der Problemzonengymnastik vor Augen. Ich hatte keine Ahnung, ob der Kommissar am Dienstag meine
Bewegungen abgespeichert hatte. Es ist vielen Menschen nicht bewusst, dass die Art, wie sie sich bewegen, maßgeblich zum Wiedererkennen beiträgt.
    Der Kommissar und seine Kollegin standen mit dem Ehepaar Widmann vor dem Hexenhäuschen. Der Kommissar schüttelte ein paarmal den Kopf und hob die Hände zum Himmel, als könnte das Siegel wieder heilen. Auch Herr Widmann schüttelte den Kopf, und Frau Widmann schaute von einem zum anderen, als könne sie sich das Ganze nicht erklären. Die Kollegin des Kommissars starrte unablässig zum Kommissar. Ich fand das zu wenig Einsatz für meine Steuergelder. Plötzlich drehte sich der Kommissar um und blickte in meine Richtung. Vor Schreck stolperte ich fast. Heidi, Heidi, Heidi , dachte ich und schlurfte schwerfällig weiter. Aber wieso sollte der Kommissar mich erkennen. Hier rechnete niemand mit mir. Mein Herz schlug so heftig, dass ich mein Blut rauschen hörte. Als ich die Kuppe des Hügels überwunden hatte, rannte ich links herum zurück, um Flipper abzuholen. Zu pfeifen wagte ich nicht, der Kommissar könnte ihn erkennen. Doch es stand niemand mehr im Hof. Wahrscheinlich waren sie ins Haus gegangen. Erleichtert atmete ich durch und kam mir albern vor, denn ich hatte nichts Gesetzeswidriges verbrochen. Trotzdem fühlte ich mich, als wäre ich gerade noch einmal freigesprochen

Weitere Kostenlose Bücher