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Alle Weihnachtserzählungen

Alle Weihnachtserzählungen

Titel: Alle Weihnachtserzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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hübsch, verkrüppelt und vollkommen. Er sah sie jung und alt, er sah sie freundlich und grausam, er sah sie fröhlich und grimmig, er sah sie tanzen und hörte sie singen, er sah sie sich die Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah die Luft erfüllt mit ihnen. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinunterschweben, sich in die Lüfte schwingen, in die Ferne segeln, sich ganz in der Nähe hinsetzen, und alle waren ruhelos und entsetzlich lebhaft. Die Steine und Ziegel, Schiefer- und Dachplatten wurden für ihn ebenso durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern, geschäftig an den Betten der Schlafenden. Er sah, wie sie die Menschen in deren Träumen besänftigten; er sah, wie sie sie mit verknoteten Peitschen schlugen; er sah, wie sie ihnen ins Ohr schrien; er sah, wie sie auf deren Kopfkissen leise Musik spielten; er sah, wie sie einige mit Vogelgesang und Blumenduft aufheiterten; er sah, wie sie bei anderen aus verhexten Spiegeln, die sie in der Hand hielten, schreckliche Grimassen in deren unruhigem Schlaf aufleuchten ließen.
    Er sah diese Geschöpfe nicht nur unter schlafenden, sondern auch unter munteren Menschen, wie sie mit einander unvereinbaren Tätigkeiten beschäftigt waren und völlig widersprüchliche Eigenschaften besaßen oder bekamen. Er sah, wie sich einer zahlreiche Flügel anschnallte, um seine Geschwindigkeit zu erhöhen, während sich ein anderer mit Ketten und Gewichten beschwerte, um sie zu vermindern. Er sah einige die Uhrzeiger vorstellen, einige sie zurückstellen und einige versuchen, die Uhr gänzlich anzuhalten. Er sah, wie hier eine Hochzeitsfeier, dort ein Begräbnis, in diesem Raum eine Wahl, in jenem ein Ball stattfand; überall sah er ruhelose und unermüdliche Bewegung.
    Verwirrt von der Menge sich verändernder und außergewöhnlicher Gestalten sowie von dem Lärm der Glocken, die die ganze Zeit über läuteten, klammerte sich Trotty Halt suchend an einen Holzpfeiler und drehte sein weißes Gesicht in stummer Verwunderung hin und her.
    Als er die Glocken anstarrte, hielten sie inne. Sofortige Veränderung! Der ganze Schwarm schwand dahin; die Gestalten stürzten in sich zusammen, ihre Geschwindigkeit ließ nach; sie versuchten zu fliegen, doch im Fallen starben sie und lösten sich in Luft auf. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein Nachzügler sprang ziemlich schnell von der großen Glocke herab und landete auf seinen Füßen, doch es war aus und vorbei mit ihm, noch ehe er umkehren konnte. Einige wenige der ehemaligen Gesellschaft, die im Turm herumgehüpft war, blieben dort und wirbelten noch etwas länger herum. Aber sie wurden bei jeder Drehung blasser, weniger und schwächer und gingen bald denselben Weg wie die übrigen. Der allerletzte war ein kleiner Buckliger, der in eine widerhallende Ecke geraten war, wo er eine lange Zeit umherkreiselte und dahintrieb. Dabei zeigte er solche Ausdauer, daß er schließlich zu einem Bein und sogar zu einem Fuß zusammenschrumpfte, ehe er sich vollständig zurückzog, aber zum Schluß verschwand er doch, und danach lag der Turm in Schweigen.
    Und jetzt erkannte Trotty plötzlich in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von der Statur und Größe der Glocke – unbegreiflicherweise eine Gestalt und die Glocke selbst. Sie waren gigantisch und ernst und beobachteten ihn finster, als er wie angewurzelt dastand.
    Geheimnisvolle und ehrfurchtgebietende Erscheinungen. Sich auf ein Nichts stützend, in der nächtlichen Luft des Turms schwebend, mit ihren geschmückten und in Kapuzen gehüllten Häuptern mit dem düsteren Dach verschmelzend, bewegungslos und schattenhaft. Schattenhaft und dunkel, obwohl er bei etwas Licht sah, daß jede für sich war – kein anderer befand sich dort – und jede ihre verhüllte Hand vor den Koboldmund hielt.
    Er konnte sich nicht wild durch die Öffnung im Fußboden hinabstürzen, denn ihn hatte jegliche Kraft zur Bewegung verlassen. Sonst hätte er es getan, ja er hätte sich lieber mit dem Kopf voran von der Turmspitze geworfen, als daß er gesehen hätte, wie sie ihn mit lebendigen und wachsamen Augen beobachteten, obwohl die Pupillen entfernt worden waren.
    Wie eine Geisterhand berührten ihn immer wieder die Furcht und der Schrecken vor diesem einsamen Ort und vor der stürmischen und schrecklichen Nacht, die dort herrschte. Sein Mangel an jeglicher Hilfe, der lange, dunkle, verschlungene und von Geistern blockierte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; die

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