Alle Zeit - Roman
grässlich
braune Keramik aus Bulgarien machen sich auf dem Flurboden breit. Ein Likörbecher zerbricht, und Juli fragt sich, wie ihre
Mutter jemals solche Hässlichkeiten in ihrer Wohnung dulden konnte.
Die haben wir fast alle gehabt, diese bulgarische Keramik. War zu nichts nütze, und dieses Braun, na ja, wir haben es in die
braunen Schrankwände gestellt, und da fiel es dann plötzlich nicht mehr so auf. Ich kenne niemanden, der es je benutzt hat,
außer vielleicht als Aschenbecher.
Du, sagt Juli, kannst gar keine braune bulgarische Keramik gehabt haben. Du bist Hebamme.
Die Hebamme lächelt, und der Mann der Hebamme lacht. Sie hat sogar Sammeltassen gehabt, die standen in einer Vitrine und waren
nach Farben sortiert. Und einen Flaschenöffner, auf dem »Ökonomischer Hebel« stand, hatten wir auch. Du kennst deine Hebamme
nicht richtig, Juli. Sie war eine richtige Zonengabi.
Die Hebamme schnauft und stupst ihren Mann in die Seite und schiebt Juli ins Wohnzimmer, um Briefe und Keramik einzusammeln.
Auf einer Kiste steht groß und fett »Fotos«. Juli ist glücklich. Bilder sind also auch dabei, da kann sie ihre Mutter in den
Kopf zurückholen und vielleicht auch ihre Großmutter und alle, die davor waren.
Svenja gibt in ihrem Bett einen kleinen fetten Laut von sich. Juli beugt sich über das Kind, fängt an zu gurren und zu schnalzen
und Unsinnigkeiten zu plaudern.
Ammensprache, sagt die Hebamme und schiebt ihren Mann in die Küche. Geh und schau dir den Herd an, beim letzten Mal hat es
nach Gas gerochen, das ist nicht gut für’s Kind.
Ich habe gelesen, sagt Juli, und die Hebamme hebt dieHände. Hör auf, so viel zu lesen, du wirst noch alles falsch machen, wenn du dich nur an Buchstaben hältst.
Ammensprache, redet Juli weiter, mehr will ich doch nicht sagen. Sie findet, dass es nicht schadet, diesen Blödsinn von sich
zu geben, weil die Ammensprache, wie sie das nennen, zwei Oktaven umfasst. So etwas gefällt den Kindern. Da lernen sie besser.
Ihre Mutter kennen. Väter quatschen nicht so.
Die Hebamme schweigt und stapelt Kisten zu einem hohen Turm.
Wir reden nur in sieben Halbtönen miteinander. Nichts mehr mit zwei Oktaven. Juli klopft mit der flachen Hand auf einen Karton
und hört, dass er voll ist.
Hat sich der Vater eigentlich mal gemeldet?
Juli geht in die Küche und schaut zu, wie der Mann der Hebamme den Gasherd auseinandernimmt. Ich weiß doch gar nicht genau,
wer es ist, ruft sie aus der Küche in Richtung Hebamme.
Einer muss es ja wohl sein, schreit die zurück. Du brauchst den Unterhalt, Juli, wenn du wieder zur Schule gehen willst.
Der Herd ist im Eimer, sagt der Mann und zieht den Kopf zwischen die Schultern. Juli schaut fassungslos. Ohne Herd geht es
gar nicht. Die Hebamme kommt in die Küche und blickt ihrem Mann in die Augen.
Das ist jetzt wirklich das letzte Zeichen. Juli, du musst hier raus. Die Wohnung ist grauenvoll. Wir haben.
Der Mann übernimmt spielend den Augenblick und die Rede. Wir werden dich erst mal zu uns nehmen. Du kannst das Zimmer von
Roland haben. Er braucht es nun wirklich nicht mehr. Und die Kleine kriegt in der Kammer daneben dreieinhalb Quadratmeter
für sich. Das reicht zum Schlafen und Windeln. Die Hebamme lächelt, und Juli fängt an zu weinen.
Jetzt sind die ganzen Kisten hier. Und der grüne Kachelofen. Aber ich freu mich. Ich freu mich, wenn ich nachts nicht mehr
allein bin mit Svenja.
Der Mann fängt an, die Kisten wieder nach unten zu tragen. Ich bring dir heute Nachmittag Kartons, da kannst du deinen Kram
reinpacken, und dann mieten wir einen Pritschenwagen.
Mein süßer Handwerker, surrt die Hebamme und lächelt Juli an. In zwei Tagen bist du hier raus und bei uns. Dann kannst du
dir in Ruhe eine Schule suchen und eine Wohnung, wenn du willst.
Juli greift in die Fotokiste und nimmt einen großen Stapel. Nur zum Gucken. Während sie packt. Ein paar Bilder. Plötzlich
hat sie das Gefühl, schnell machen zu müssen mit dem Kennenlernen ihrer Familie. Und sie muss wieder in den Park. Die alte
Dame mit dem löchrigen Kopf finden. Nicht dass eins aufs andere folgen muss. Aber wenn sie sich doch nun mal beide erinnern
wollen. Die alte Dame und sie. Dann könnte man das auch zusammen tun. Juli staunt über ihren Gedanken, aber sie findet ihn
nicht schlecht.
Die Kegelbrüder sind genau so, wie Elisa es vorausgesehen hatte. Stürzen sich auf die beiden alleinreisenden Frauen, als hätten
sie
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