Alle Zeit - Roman
einem Park, hinter einem großen Rhododendron.
Ich war ja noch nicht mal siebzehn, undKlara hatte mich ziemlich kurz gehalten in diesen ganzen Angelegenheiten. Nach meiner, offensichtlich falschen, Rechnerei
hätte ich drei Tage später meine Regel bekommen müssen. Und weißt du, woher ich das noch weiß? Weil er mich gefragt hat. Er
hat mich hinter den Rhododendron gelegt und gefragt, wann ich meine nächste Regel bekomme. Und ich muss gesagt haben, in drei
Tagen. Was ja vielleicht auch stimmte. Aber schiefgelaufen ist es trotzdem. Beim ersten Mal überhaupt in meinem Leben.
Du warst noch Jungfrau?
Ja.
Henriette dreht sich auf die Seite und zieht die Decke bis zu den Ohren hoch. Elisa spürt, wie der Kick kommt. Die Tabletten
wirken, und hinter den Schläfen wird es ruhig. Glück gehabt, denkt sie und legt die rechte Hand auf eine leichte Übelkeit
im Magen. Mit der kann sie leben und schlafen. Sie versucht an ihren Vater zu denken, der nur ein Stiefvater war, sich aber
Mühe gegeben hat. Mit ihr und mit ihrem Bruder, der sein eigenes Fleisch und Blut gewesen ist. Sogar ziemlich viel Mühe. Wenn
sie es recht beschaut, verdankt sie ihrem Vater, der nur ein Stiefvater war, fast alle Grundlagen ihres Wissens. Er war ein
Wissensfanatiker und ein Naturmensch. Hat alles, was draußen wuchs und wucherte, wenigstens einmal versucht zu essen. Außer
Vogelbeeren und Tollkirschen wahrscheinlich. Aber sonst. Elisa erinnert sich plötzlich an die eine oder andere Rettungsaktion,
bei der ihrem Vater der Magen ausgepumpt werden musste. Und an Durchfälle und Verstopfungen und Krämpfe erinnert sie sich
auch. Henriette hat immer versucht, die Kinder vor den Experimenten zu bewahren. Brennnesselsuppe ja, aber keinen Gundermannsalat.
Gänseblümchen durften sein, aber die unbestimmbaren dunkelgrünen und fleischigen Blätter aus dem nahe gelegenen Wäldchen kamen
nicht auf den Tisch.
Hat immer Glück gehabt, der Alte, murmelt Elisa und dreht sich auch zur Seite. Außer einmal bei den Pilzen. Da wär er fast
draufgegangen.
Elisa schläft ein, und Henriette drückt noch ein paar Tränen in ihr viel zu weiches Kissen. Ihr ist das Bild eines Draufgängers
in den Kopf gekommen, der ihr heikle Sachen ins Ohr flüsterte. Und sie erinnert sich an die paar Tropfen Blut, die am nächsten
Morgen in ihrem Schlüpfer waren. Und von denen sie ernsthaft glaubte, sie seien der Garant dafür, dass nichts passiert war
hinterm Rhododendron.
Klara hat Franz wieder im Kopf, und da ist er nun und macht sich breit. Nimmt Plätze ein, die überlebenswichtig für den Tag
sind. Zumindest glaubt Klara das. Plötzlich weiß sie den Weg zum Ausgang nicht mehr und auch nicht, ob draußen Winter oder
Sommer ist. Franz versperrt ihr den Weg. Beides ließe sich ganz einfach klären. Sie könnte jemanden fragen. Aber wenn sie
das tut, darf sie sicher nicht das Haus verlassen.
Klara steht auf dem Flur, der immer nach Putzmittel riecht und an dessen Wänden lustige Bilder aus traurigen Malkursen hängen,
und versucht nachzudenken. Sie ist wütend auf Franz und die halbe Welt dazu. Und dann sieht sie ein bekanntes Gesicht. Der
Jude. Der nette Jude mit den flinken Händen. Klara lächelt und sucht im Kopf nach dem Namen. Schließlich kann sie ihn nicht
mit Jude anreden. Das ist kein Name, so viel hat sie noch parat.
Hallo, Klara, sagt der Jude und nimmt ihre Hand. Schön, dass ich dich treffe. Aaron, habe ich heute früh gedacht, du wirst
ganz bestimmt Klara treffen, wenn du dir Mühe gibst.
Das hat er lieb eingefädelt, denkt Klara und lächelt noch mehr. Wusste wahrscheinlich, dass ich hin und wieder Namen vergesse.
Und seine Hand fühlt sich auch gut an.
Ich will spazieren gehen. Habe gefragt, und sie haben es mir erlaubt. In den Park. Allerdings. Klara lässt das schwierige
Wort allerdings in der Luft hängen. Sie müsste jetzt erklären, dass ihr die Jahreszeit und der Weg nach draußen fehlen.
So kannst du nicht gehen, Klara, es ist sehr kalt, liegt noch viel Schnee. Ich habe heute meinen guten Tag, deshalb weiß ich
das alles. Wenn du gestattest, dass ich dich begleite, gehen wir uns warme Sachen holen und zusammen in den Park.
Darfst du denn in den Park?
O ja, an meinen guten Tagen. Aaron drückt und schiebt und geleitet und dirigiert Klara zum richtigen Zimmer. Er geht an ihren
Kleiderschrank und holt eine warme Wollweste raus und den dicken Mantel, Handschuhe und eine von den beiden
Weitere Kostenlose Bücher