Alle Zeit - Roman
Mützen. Hast du
keinen Schal?
Klara guckt angestrengt und fängt an, ein bisschen zu schielen. Aaron lächelt und sucht einfach das ganze Zimmer ab. So etwas
geht schnell, schließlich sind all diese Zimmer, in denen sie bis ans Ende ihrer Tage sein werden, absolut überschaubar. Er
findet den Schal am Fußende des Bettes.
Klara ist inzwischen angezogen.
Jetzt müssen wir das Gleiche noch mit mir machen, sagt Aaron und nimmt Klara wieder an die Hand, drückt und schiebt und geleitet
und dirigiert sie ein Stockwerk höher in sein Zimmer. Als er angezogen ist, stellt er sich mit Klara vor den Spiegel, der
am Kleiderschrank befestigt und so groß wie eine halbe Tür ist. Wir sehen aus wie ein nettes altes Ehepaar, findest du nicht?
Klara findet nicht, sie kann sich noch nicht an Aaron gewöhnen. Weil Franz wieder in ihrem Kopf ist. Aber nett, da hat Aaron
recht, sehen sie beide schon aus. Ein bisschen verwegen sogar. Wie Aaron seinen Schal um den dünnen Hals drapiert hat. Wie
das Phantom der Oper. Jetzt ist Klara wieder völlig verblüfft über ihren Kopf. Das Phantom der Oper. Hat sie bestimmt nie
gesehen oder gehört. Vielleicht was drüber gelesen.
Du siehst aus, sagt sie zu Aaron, um ihr Wissen auszuprobieren, wie das Phantom der Oper.
Er lächelt. Ich sehe aus wie ein reicher alter Jude. Er bringt Klara und sich zum Ausgang und durch die große Glastür und
auf den Weg zum Park. Es ist sehr kalt. Klara steckt ihre Hände in die Taschen des dicken Mantels und fühlt Aarons Hand an
ihrem Ellenbogen und wie er sie sanft mit dieser Hand in die hoffentlich richtige Richtung schiebt. Das gefällt ihr sehr gut.
So hat es Franz auch gemacht in ihren besseren Jahren. Immer weg vom Bordstein die Frau und leicht geschoben und dirigiert.
Spielst du Schach, fragt Klara, und bei dem Wort Schach entsteht vor ihrem Altfrauenmund eine weiße kalte Wolke.
Ich müsste sehen, ob dieser Teil meines Hirns noch funktioniert. Wir können es gern probieren, Klara. Wo willst du hin im
Park?
An den kleinen Teich. Ich muss jemanden finden. Ein Mädchen mit grünen Haaren und einem Bauch.
Einem Bauch. Wie meiner oder deiner?
Klara lächelt und hat das Gefühl, gleich wieder aus dem Leben zu fallen. Er war dick der Bauch, sehr dick, und ich habe.
Die ersten Tränen tropfen ihr aus den Augen. Wenn sie in diesen Augenblicken noch ein bisschen denken kann, wundert sie sich
immer, dass die Tränen fließen, als sei sie in Trauer. Tränen sind das sicherste Zeichen dafür, dass sie gleich anfangen wird
zu brabbeln und zu sabbern. Klara dreht sich von Aaron weg und läuft mit schnellen Tippelschritten in die entgegengesetzte
Richtung. Aber sie ist nicht schnell genug, Aaron hat heute wirklich seine beste Form gefunden. Er fängt sie ein und ab und
nimmt sie am Arm und drückt und schiebt und geleitet sie zu einem kleinen Café am Teich. Das ist offen, aber leer. Ganz und
gar. Nur eine etwas krank aussehende Kellnerin steht am Tresen und schaut die beiden Alten verwundert an, die da ins Haus
schneien. Erst vor einer Minute hat sie die Türaufgeschlossen, pünktlich, wie es der Geschäftsführer verlangt. Aber noch nie ist im Winter gleich ein Gast erschienen. Nicht
mal an einem sonnigen Tag.
Und sie sieht auch gleich das Dilemma. Der Alte macht ja noch einen ganz fitten Eindruck, aber sie ist nicht mehr von hier.
Wird geschoben und platziert, als hätte sie gar keinen Verstand. Dann lächelt der Alte in ihre Richtung.
Die Kellnerin nimmt zwei Karten, ein bisschen Anstand muss sein, auch wenn eine Karte wahrscheinlich ausreichen würde, und
geht zum Tisch.
Guten Tag, meine Liebe, es ist schön, dass Sie schon aufhaben. Meine. Frau hier brauchte dringend eine kleine Pause.
Ja, denkt die Kellnerin, sie sieht aus, als stünde sie kurz vor der ganz großen. Und dann ärgert sie sich über diese gedachte
Grobheit und lächelt dem Alten freundlich zu, als Wiedergutmachung sozusagen. Der fängt an, die ganze Karte laut und deutlich
vorzulesen und Empfehlungen abzugeben, als sei die Frau bei Sinnen. Nach fünf Minuten schlägt er die Karte zu und winkt und
bestellt zwei Kännchen Tee und zwei Stück Käsetorte. Die sind schnell gebracht, und die Kellnerin schaut im Schutz des Tresens
zu, wie der Alte die Situation meistert. Immer im Wechsel nimmt er ein Schlückchen und ein Stück vom Kuchen, legt seine Gabel
hin, um seiner Frau ein Schlückchen Tee einzuflößen und ein Stück vom Kuchen in
Weitere Kostenlose Bücher