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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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gerade einen Fronteinsatz hinter sich. Henriette lässt sich auf der Tanzfläche hin und her schieben. Manchmal lacht sie,
     wenn einer der tanzenden Männer einen Witz macht. Man sieht ihr an, dass sie gern tanzt und dass die lauten Kegelbrüder sie
     dabei nicht stören. Elisa hat es da schwerer. Sie kann nicht mit jemandem tanzen, den sie ganz und gar fürchterlich findet.
     Und Kegelbrüder sind fürchterlich. Obwohl diese hier gar nicht wirklich kegeln. Sie spielen allesamt mit Modelleisenbahnen,
     sind auf Abenteuerurlaub, die Hanuller. Hanull, sagt einer, der schon die zweite Runde mit Elisa tanzt. Das sind ganz besondere
     Eisenbahnfreunde, die Hanull bevorzugen, wissen Sie. Die besten natürlich.
    Elisa kann beisteuern, dass sie immerhin auch mal eine Modelleisenbahn dieser Art hatte. Das bringt das Blut des Hanullers
     in Wallung. Elisa muss genau erklären, welchen Trafo sie besaß und ob sie die Tunnel selbst gebaut hat und welche Lokomotiven
     ihre Waggons zogen. An nichts kann sie sich erinnern, außer an das Geräusch, das der kleine Güterzug gemacht hatte, wenn sie
     ihn auf die Schienen schickte.
    Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass mein Vater mir die Eisenbahn zu meinem Vergnügen geschenkt hat? Die meiste Zeit hat
     er damit gespielt.
    Elisa erinnert sich, wie sie stundenlang und akribischselbstgesammeltes Moos auf Tunnel geklebt hat. Und wie mühevoll diese Tunnel entstanden waren. Aus zig Schichten Zeitungspapier,
     die auf eine Kuchenrolle gelegt und übereinandergeklebt wurden, so lange, bis die vielen Schichten ein stabiles Halbrund ergaben,
     das man bemalen und bekleben und beschneiden konnte.
    Der Eisenbahnbruder juchzt vor Freude bei diesen Erzählungen und schwenkt Elisa energisch über die Tanzfläche.
    Sie müssen an unseren Tisch kommen, sagt er und zwinkert ihr zu. Eine Frau wird uns aufmöbeln, glauben Sie mir.
    Elisa will nicht aufmöbeln. Sie sieht sich hilflos nach Henriette um, die immer noch hin und her geschwenkt wird und sich
     immer noch dabei amüsiert. Aber dann nimmt sie Elisas gequälte Miene war und kommt zurück an den Tisch.
    Die spielen mit Eisenbahnen, wie dein Vater. Hanull, hast du gehört?
    Elisa nickt und trinkt ein halbes Glas vom angeblich trockenen Weißwein. In den Schläfen geben die Vorboten einer Migräne
     Klopfzeichen.
    Ich muss, sagt Elisa, und legt ihre Zeigefinger auf die Schläfen. Das versteht Henriette sofort. Nichts versteht sie so gut
     wie die Handzeichen für eine anklopfende Migräne. Sie winkt der Kellnerin und bezahlt den Wein und winkt den Hanullern und
     nimmt Elisa an die Hand.
    Im Zimmer kramt Elisa mit fahrigen Händen in der Waschtasche. Kulturbeutel, murmelt sie und prüft den Inhalt eines Tablettenfläschchens.
     Sie nimmt fünf Tabletten mit Wasser und hofft, sich noch rechtzeitig gedopt zu haben. Henriette fragt, wie viel so ein Anfall
     braucht.
    Mindestens zwei Gramm oder zweieinhalb. Aber nur, wenn ich es früh genug nehme. Morgen ist alles überstanden.
    Elisa legt sich ins Bett und wartet auf die Wirkung. Sie liebt diesen Augenblick, wenn die Tabletten anfangen zu wirken. Nichts
     schafft größere Erleichterung, eine fast schon orgiastische Freude, als dieser Augenblick, wenn klar ist, dass die Schmerzen
     jetzt weniger werden und bald verschwunden sind.
    Warum, fragt sie in Henriettes Richtung, nennen wir meinen Stiefvater eigentlich immer meinen Vater?
    Du hast ihn nie anders genannt, auch nicht, als du wusstest.
    Und wer, fragt Elisa, als gäben ihr die Kopfschmerzen plötzlich jedes Recht der Welt, ist mein Vater?
    Henriette schweigt und atmet nur ein wenig schneller. Wieso willst du das jetzt plötzlich wissen?
    Weil wir zum Haus fahren und damit Klara wieder ausgraben und eine Menge anderer Geschichten. Ein leiblicher Vater würde da
     gut reinpassen. Er würde es. Rund machen. Finde ich.
    Was fingest du denn jetzt mit einem Namen an, Elisa, ein Name, ein Fremder für dich, gar nichts. Kein Gesicht, keine Stimme,
     keine Biografie, nur ein Name. Was willst du damit?
    Den Namen kannst du meinetwegen für dich behalten. Ich will die Biografie oder wenigstens den Ausschnitt, den du kennst.
    Ich kenne keinen, sagt Henriette und fängt an zu heulen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Bei einem Tanzabend.
    Elisa richtet sich auf und überlegt, was es da jetzt zu weinen gibt. Einundvierzig Jahre später. Bist du etwa. Vergewaltigt?
    Nein, murmelt Henriette und beruhigt sich wieder. Freiwillig und betrunken. In

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