Alle Zeit - Roman
den Mund zu schieben. Und wenn sie sabbert,
wischt er ihr vorsichtig den Mund ab.
Die Kellnerin wird rührselig und mutlos. Sie bringt dem Alten zwei neue Servietten. Und der lächelt sie an und sagt: Das ist
wahrscheinlich in ein paar Minuten wieder vorbei. Sie werden sich wundern, wie gut Klara dann wieder ins Leben passt.
Ach, denkt die Kellnerin und fühlt sich wie die Hauptfigurin einem Film von Jim Jarmusch. Ins Leben passen wir doch alle nicht. Sie setzt sich hinter dem Tresen auf einen kleinen Hocker
und zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch steigt senkrecht auf. Eine müde Kapitulation.
Im Kopf der Kellnerin, die es bislang ob all der widrigen Umstände, die ihr Leben bestimmen, nur auf drei Studiensemester
gebracht hat, entsteht ein Bild vom Bild, Dennis Hopper oder Edward, denkt sie und ärgert sich wieder einmal über ihr schlechtes
Gedächtnis für Namen. Anthony Hopkins. Nein, der gehört zum »Schweigen der Lämmer«. Eine Tankstelle malt sich in den Kellnerinnenkopf,
ein Wohnzimmer mit einem mehr oder weniger toten Ehepaar darin, ein Tresen, an dem einsame Menschen sitzen. Edward, sagt die
Kellnerin und steht auf, um die Zigarette im Aschenbecher auszudrücken.
Sie schaut zu den beiden Alten und ist erstaunt, dass die sich unterhalten. Also schiebt sie sich neugierig an den Tisch und
setzt auf den Vorwand nachzufragen, ob man noch etwas wünsche.
Natürlich, sagt der Alte fröhlich und zwinkert seiner Frau zu, deren Augen plötzlich wieder Leben haben und eine kleine Traurigkeit
dazu. Aber immerhin, sie redet und lächelt und sagt, Schokolade, eine heiße Schokolade bitte.
Warum er das wohl nicht gewusst hat, denkt die Kellnerin und lächelt zurück, dass seine Frau lieber heiße Schokolade trinkt.
Sie geht und braut eine aus echter Milch, obwohl nur heißes Wasser erlaubt ist. Dem Ehemann bringt sie, wie gewünscht, einen
Grog und die heiße Schokolade mit echter Milch hinterher. Dann verschanzt sie sich wieder hinterm Tresen und hört mit halbem
Ohr, wie die Alte von jemandem mit grünen Haaren redet. Meint vielleicht die kleine Schwangere, denkt die Kellnerin träge.
Dieses Kind, das ein Kind erwartet. Vor ein paarWochen noch ist die immer mal um den Teich gelaufen, das konnte man vom Küchenfenster aus sehen, und hin und wieder kam sie
rein, bestellte das Preiswerteste und wärmte sich auf. Hat nie ein Wort geredet. Aber unglücklich sah sie auch nicht aus.
So dick, wie die war, müsste das Kind inzwischen da sein, denkt die Kellnerin und fragt sich, ob sie das den beiden Alten
da erzählen sollte. So viele, die hier mit grünen Haaren rumlaufen, gibt es nicht. Zu anständig, die Gegend. Sie geht an den
Tisch und steht einige Sekunden unschlüssig da und nimmt dann die Teller und die Tassen und geht wieder. Nichteinmischung
ist immer besser, denkt sie und zündet sich die nächste Zigarette an. Vielleicht will die Grünhaarige ja gar nicht gefunden
werden.
Elisa erwacht ohne Migräne. Ihr Kopf ist wieder ganz, und draußen scheint die Sonne. Vorsichtig wagt sie einen Blick auf die
immer noch vermummte Henriette. Scheint sich in der ganzen langen Nacht nicht einmal bewegt zu haben. Elisa denkt über die
Rhododendrongeschichte nach und findet sie rührend. Obwohl ihr das völlig unpassend erscheint. Schließlich begann hinterm
Rhododendron das Unglück ihrer Mutter. Aber auch ihr eigenes Leben. Das hat ja was, denkt Elisa und steht vorsichtig auf,
um ins Bad zu gehen. Henriette rührt sich nicht, und das macht Elisa ein bisschen nervös. Sie geht ins Bad, setzt sich aufs
Klo und wundert sich, wie jeden Morgen, wie viel Flüssigkeit sich in einer kurzen Nacht in ihrer Blase sammeln kann. Und zum
hundertsten Mal überlegt sie, ob die Tabletten vielleicht zusätzlich Wasser produzieren, das den Körper verlassen muss. Hätte
schon längst mal einen Arzt fragen können, murmelt sie. Oder den Beipackzettel lesen.
Sie spült und weckt Henriette damit auf. Die guckt aus rotgeränderten Augen aus dem Fenster und auf die sonnig weiße Wiese
und erschrickt über die Uhrzeit.
So lange haben wir geschlafen?
Ist doch gut, du hast offensichtlich viel Nachholbedarf. Elisa staunt darüber, sagt aber nichts. Schließlich hat Henriette
zu Hause alle Zeit der Welt zum Schlafen.
Henriette steht auf und schaut an sich hinab, als sähe sie ihren Körper zum ersten Mal. Sie schiebt das Nachthemd hoch und
bewegt ihre Knie aufeinander zu
Weitere Kostenlose Bücher