Alle Zeit - Roman
undvoneinander weg. Es kommt mir vor, sagt sie und knallt die Knie aneinander, als hätte ich dich gestern Abend zum unerwünschten
Kind abgestempelt. Das ist natürlich nicht richtig.
Für Elisa schon. Sie kann nicht glauben, dass hinter einem großen Rhododendron Wunschkinder gemacht werden.
Henriette nimmt Haut und Gewebe ihres rechten Oberschenkels zwischen zwei Finger und drückt zu. Für ein paar Sekunden bleiben
die Druckstellen tief im Fleisch, bevor sie wieder Farbe bekommen und ihre Gestalt verlieren.
Elisa scharrt vorsichtig mit den Füßen auf blankem Linoleum und spürt die schrundigen Stellen unter den Fußsohlen. Als Kind
musste sie oft Handschuhe im Bett tragen. Dicke unförmige Fausthandschuhe, damit sie sich nicht Schicht für Schicht die Haut
von den Fußsohlen riss. So lange, bis es anfing zu bluten und jeder schmale Streifen Haut, der abgezogen wurde, mit einem
brennenden Schmerz verbunden war. Niemand wusste, warum sie das tat, sie selbst am wenigsten. Aber das befriedigende Gefühl,
wenn die Hornhaut sich löste und dann die Haut darunter, kennt sie noch heute. Hin und wieder fällt sie dem alten Drang, ihre
Fußsohlen zu verstümmeln, zum Opfer.
Wir gehen jetzt frühstücken, und dann fahren wir los. Oder wir laufen, das ist besser.
Henriette nickt und schiebt das Nachthemd zurück über ihre rundlichen Knie, steht auf und geht ins Bad. Elisa nimmt ihre wärmsten
Sachen aus dem Koffer und den Fotoapparat. Vor dem Fenster kreischt ein Elsternpaar, und im Nachbarzimmer wird die Dusche
angestellt. Elisa nimmt die Fernbedienung vom Tisch und drückt auf die eins und dann weiter im Programm, bis Musik kommt.
Beim Frühstück redet nur Henriette, als gelte es, allem Ungewohnten die Krone aufzusetzen. Zwei Tische weitersitzen die Hanuller, schweigsam und verkatert. Nur Elisas letzter Tanzpartner schaut einmal herüber, lächelt matt und beugt
leicht den Kopf, als wären ihm morgens mehr Manieren zu eigen als an späten Abenden. Elisa lächelt zurück und greift nach
ihrer Kaffeetasse. Sie ist fast die Jüngste im Raum, was den Zwiebelzöpfen an den Decken und den öligen Bildern an den Wänden
etwas von der Traurigkeit nimmt. Elisa weiß nicht, warum.
Henriette malt mit der linken Hand ein Halbrund in die Luft, um zu zeigen, wann Klara ihren dicker werdenden Bauch bemerkte.
Der wölbte sich schnell, sagt sie, wahrscheinlich, weil ich in Panik war. Klara hat mich in die Küche geholt, auf den eisernen
Mülleimer gesetzt und gefragt, ob ich schwanger sei. Und ich habe gesagt, ich wisse es nicht, aber mir sei morgens übel und
das Blut wäre nicht gekommen. Dann bin ich in Ohnmacht gefallen, wie eigentlich immer, wenn die Dinge sich gegen mich wendeten.
Ich rutschte vom Mülleimer, und als ich nach ein paar Sekunden wach wurde, lag ich immer noch auf dem Fußboden. Klara stand
am Fenster und starrte raus, ohne sich zu rühren oder was zu sagen. Dann holte sie einen Kochtopf aus dem Schrank und Rotwein
aus der Kammer. Sie hat mir drei Gläser von dem heißen Gesöff eingetrichtert, mich dann in die Wanne gesetzt, in der das Wasser
fast noch heißer war. Da bin ich dann wieder in Ohnmacht gefallen. Klara hielt meinen Kopf über Wasser, und bei all dem sagte
sie nicht ein Wort.
Sie zog mich, besoffen, wie ich war, aus der Wanne, trocknete mich ab und legte mich ins Bett auf ein weißes Laken. Und dann
kam sie alle paar Minuten, um zu schauen, ob sich blutige Flecken zeigten.
Elisa schaute fasziniert auf ihre Mutter. Du beschreibst ein Monster. Das kann nicht Klara gewesen sein.
Aber genau so hat sie es gemacht. Stell dir doch vor, Elisa.Sie war wer in dieser Stadt. Eine kleine Funktionärin nur, aber das galt doch viel in diesen Zeiten. Noch immer haben sie
die Leute hinter ihrem Rücken Russenflittchen genannt, obwohl die Russen sich schon lange in ihre Kasernen zurückgezogen hatten.
Man sah sie noch in der Stadt, aber sie hielten sich abseits. Geliebt hat sie ja sowieso niemand. Umso schlimmer für Klara,
die mit dem Russen im Bett gelegen hatte. Und deren Tochter nun plötzlich mit einem dicken Bauch rumlaufen würde. Minderjährig
noch. Die nächste Hure in der Familie. Klara konnte und wollte das nicht akzeptieren.
Später hat sie immer geleugnet, dass sie dich abtreiben wollte. Zu Beginn aber. Alle Hausmittel, die sie kannte, nur die Stricknadel
nicht, hat sie ausprobiert. Sie steckte mich bis zur Erschöpfung in heiße Bäder und
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