Alle Zeit - Roman
der Kellnerin und auf deren Schultern, die leicht hängen und schief aussehen. Aber schön ist sie,
denkt Juli.
Wie sah die alte Frau denn aus? Hatte sie einen dicken grauen Mantel an, und hat sie was von Wörtern gesagt, die im See ertrinken?
Ja und nein, sagt die Kellnerin. Der Mantel stimmt, von den ertrunkenen Wörtern habe ich nichts gehört.
Blaue, blasse Augen, fragt Juli weiter.
Glaube schon. Aber haben die Alten nicht alle blassblaue Augen? Man sieht den Leuten nicht gern ins Gesicht, wenn sie den
Verstand verloren haben. Ich meine, wir haben ja auch unsere Ängste.
Juli schaut in die Kellnerinnenaugen und fragt sich, welche Angst das sein kann, bei der man nicht in alte Augen schauen mag.
Aber sie traut sich nicht zu fragen. Wenn sie noch einmal kommt, die alte Frau, kannst du sie fragen, wo sie wohnt? Ich möchte
sie besuchen. Sie hat. Sie hat ihren Schal verloren, als ich sie auf der Parkbank traf. Da war Svenja noch nicht da. Ich will
ihr den Schal zurückbringen.
Juli fragt sich, warum sie jetzt so einen Berg kleiner Lügen aufbaut, nur um die alte Frau zu finden. Sie könnte derKellnerin doch einfach sagen, dass sie jemanden sucht. Und sich einbildet, die alte Frau gehöre in irgendeiner Weise zu ihr.
Aber das klingt nicht glaubhaft, und Juli möchte, dass die Kellnerin sie glaubhaft findet. Warum es so ist, darüber wird sie
sich zu Hause Gedanken machen.
Die Kellnerin drückt ihre Zigarette aus. Vier Männer kommen ins Lokal und grüßen, als seien sie hier häufig zu Gast. Einer
von ihnen streckt vier Finger der rechten Hand in die Luft. Die anderen besetzen den Tisch in der hintersten Ecke und fangen
sofort an zu reden. Die Kellnerin geht zum Tresen und zapft vier Bier. Juli schaut zu, wie sich auf jedem Glas ein weißer
Schaumberg bildet, den die Kellnerin mit einer schwungvollen Bewegung köpft, um noch einmal Bier nachzufüllen und dann alle
Gläser auf ein Tablett zu stellen. Sie stellt das Tablett auf den Tisch, an dem die Männer sitzen, legt Bierdeckel vor jeden
hin und stellt die Gläser drauf. Einer der Männer legt besitzergreifend eine Hand auf ihren Rücken. Er sagt etwas, und die
anderen lachen laut. Juli sieht, wie das dickere Bein der Kellnerin ganz leicht nach hinten ausschlägt. Und wie der Kellnerinnenrücken
sich versteift. Die haben sie beleidigt, denkt Juli und findet einmal mehr, dass die Kellnerin aussieht wie diese Schauspielerin,
die auf der Parkbank stirbt.
Juli stopft das dicke Federkissen wieder in den Kinderwagen, zieht sich an und legt einen Euro auf den Tisch. Sie schiebt
den Kinderwagen zum Tresen und sagt: Ich komme morgen vielleicht wieder. Aber ich ziehe um. Zu meiner Hebamme.
Die Kellnerin nickt, als hätte alles seine Logik. Wenn die alte Frau kommt, werde ich sie fragen. Hauptsache, sie ist bei
Verstand. Und kann antworten.
Juli geht und hofft, die Kellnerin möge sie zurückrufen und für den Abend einladen. Oder ihr eine Adresse gebenund eine Telefonnummer. Dann hätte sie jemanden, den sie anrufen kann. Außer der Hebamme natürlich, bei der sie bald wohnen
wird.
Die Kellnerin zapft vier Bier und schaut dem grünhaarigen Mädchen hinterher. Sie hätte ihr gern ihre Telefonnummer gegeben,
befürchtet aber, dass es komisch ankommt. So unter Frauen, die einander nicht kennen, einfach Telefonnummern auszutauschen.
Klara denkt angestrengt nach. Bis zum Mittagessen will sie wissen, ob der Helmstedter dem Juden an den Kragen gegangen wäre.
Wenn er ihn gekannt hätte. Sie sucht ihre Holzkiste und nimmt das Foto von Franz in die Hand. Das, auf dem er so gut aussieht.
Klara hat den Trick inzwischen raus. Sie braucht bloß irgendetwas in die Hand zu nehmen von damals, und schon kommt alles
wie auf eine Kinoleinwand gemalt. Damit wird sie sich noch eine Weile über Wasser halten können. Bis der Verstand komplett
verschwindet. Manchmal ist sie vor Wut ganz außer sich, wenn sie daran denkt, dass sie nun langsam blöde wird. Im Kopf und
überhaupt. Es ist für fast alles zu spät. Aber erinnern kann sie sich noch, wenn etwas zur Hand ist, das beim Erinnern hilft.
So etwas wie dieses schöne Franzbild.
***
Das mit dem Russen haben sie ihm schnell gesteckt, damals nach seiner Heimkehr. Dauerte nicht mal zwei Wochen, da wusste er
Bescheid. Dass seine Klara sich zum Eroberer ins Bett gelegt und dafür Brot und Milch bekommen hatte. Manchmal schien er »benutzte
Ware« zu denken, wenn er ihre Brust
Weitere Kostenlose Bücher