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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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drin ist, dann packt es sich leichter aus. Der Mann der Hebamme lächelt
     und denkt, solche Ratschläge sind bei dem Mädchen wahrscheinlich verlorene Müh. Sie ist eine Chaotin und traurig noch dazu.
    Juli fängt an, ein paar Bücher aus den Regalen zu nehmen, und betrachtet jedes einzelne so ernsthaft, als müsse sie erst jetzt
     prüfen, ob es tauglich für ihren Verstand ist. Meine Mutter hat ihre Bücher alphabetisch geordnet. Das erste Buch im Regal
     war von Paul Auster und das letzte von Stefan Zweig. Ich habe oft in ihrem Bücherzimmer geschlafen, wenn wir Besuch bekamen.
     Besuch durfte immer in meinem Zimmer übernachten, weil das nach hinten raus ging. Da wurde dann eine Matratze neben mein Bett
     gelegt, und ich zog ins kleine Zimmer um. Und wenn ich nicht einschlafen konnte, habe ich die Schrift auf den Buchrücken gelesen,
     von oben links nach unten rechts. Und auswendig gelernt, mit welchem Namen jeder Buchstabe anfing. Auster, Balzac, Calvino,
     Duras, Enzensberger,Faulkner, Gandhi, Heine, Ionesco, Jandl, Kant, Lewis, Moravia, Nexö, Orwell, Perec, Queneau, Rabelais, Saint-Exupéry, Tabori,
     Updike, Vautrin, Wallraff, Xanu, Yoga, Zola. Ich habe oft in diesem Zimmer geschlafen. Jetzt liegen die Bücher meiner Mutter
     in Kisten. Ich habe mir hier nur die auswendig gelernten Anfangsbuchstaben hingestellt. Auster finde ich schön, aber Zola
     gefällt mir nicht. Ich habe trotzdem alle Anfangsbuchstaben gelesen. Als ich schwanger war. Da hat man ja viel Zeit und ist
     ein bisschen träge mit so dickem Bauch.
    Der Mann der Hebamme steht still und hört zu. Juli hat bisher immer wenig geredet, und von ihrer Mutter schon gar nicht. Vielleicht
     wird doch noch alles gut mit dem Kind und dessen Kind. Das ist ja alles schwer zu ertragen. Diese ganze Familie, als sei sie
     vom Unglück verfolgt. Seine Frau hat zu Hause viel erzählt von dem Mädchen mit den grünen Haaren, dem erst die Familie wegstirbt
     und das dann noch ein Kind erwartet, ohne Vater dazu. Und wenn sie so erzählte, kam ihm schon in den Sinn, dass sie ihn vorbereiten
     wollte auf eine Übernahme der Verantwortung, oder wie immer man das nennen mag. Ihm gefällt die Kleine ja, sie ist ziemlich
     mutig. Hat sich von allem Unglück noch immer erholt.
    Ich weiß jetzt, wer der Vater ist, sagt Juli etwas atemlos zu dem Mann und drückt ihm einen Stapel Bücher in die Hand. Der
     heißt Jakob und wohnt gar nicht so weit weg von hier. Vielleicht. Wenn er noch da ist. Ich weiß es nicht. Aber er war sehr
     freundlich.
    Woher weißt du das plötzlich, Juli? Du hast doch bisher immer geschwiegen, wenn man dich gefragt hat.
    Svenja ist ihm ähnlich. Irgendwie jedenfalls. Ich werde einfach an seinem Haus vorbeigehen und schauen, ob der Name noch auf
     dem Klingelschild steht. Und dann kann ich überlegen, ob Svenja ihn braucht oder nicht.
    Der Mann brummt und nimmt Bücher aus dem Regal. Als ob so ein Kind keinen Vater braucht. Aber das muss das Mädchen wohl selbst
     entscheiden.
    Sie könnte von ihm malen lernen. Er hat gemalt. Im Park. Jeden Tag hat er ein paar Skizzen gemacht, und abends haben wir Bücher
     angeschaut, manchmal, in denen Bilder zu sehen waren, die ihm gefielen. Franz Marc, zum Beispiel. Den fand er toll. Wegen
     der Farben. Und des Schwungs. In den Linien. So hat er es jedenfalls beschrieben. Svenja könnte wirklich viel von ihm lernen.
    Juli ist plötzlich ganz und gar glücklich. Sie nimmt Svenja auf den Arm, die ihre Augen aufgemacht hat. Sie lächelt, zumindest
     vermutet Juli, dass diese Grimasse ein Lächeln ist und ihr gilt. Sie legt Svenja auf den Tisch und fängt an, ihr dicke Sachen
     anzuziehen. Wir gehen raus und schauen, ob es Jakob noch gibt. Die Kartons packe ich nachher voll, und morgen schon gehen
     wir hier weg.
    Svenja wird dicker und dicker. Eine Schicht Windeln und Hemdchen, eine Schicht Strampler und Jäckchen, eine Schicht dick gefütterter
     Winteranzug. Sie fängt an zu weinen.
    Schnell, sagt Juli, schnell, wir müssen sie in den Wagen packen, damit ich losfahren kann.
    Der Mann der Hebamme schaut ein wenig missbilligend, aber er hilft beim Runtertragen der ganzen Kledage. Kissen, Decke, Wärmflasche,
     Svenja, Handtasche. Juli lächelt und sieht ganz sonnig aus.
    Ich packe noch ein bisschen, sagt der Mann und geht die Treppen wieder rauf.
    Juli schiebt den Wagen durch die kalten Straßen hin zum Park. Sie schaut nach rechts und links und auf jede Bank. Vielleicht
     ist die alte Dame doch noch einmal

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