Alle Zeit - Roman
liebsten hätte Klara ihre Ruhe. Sie nimmt die rechte Hand vom Kopf des Mädchens und schiebt
sie unter die Decke. Da, wo Franz noch vor ein paar Minuten seine Finger hatte, fühlt Klara einen kleinen festen Knoten, der
sich nur wenig hin und her schieben lässt unter dem weichen Gewebe. Fast gar nicht, denkt Klara, nimmt die Hand da wieder
weg und legt sie auf die Kanne. Ich hab schon den Krieg gehabt, denkt sie und steht auf. Da werd ich nicht auch noch Krebs
bekommen.
Die nette Pflegerin mit dem roten Zopf findet Klara mit einem Foto in der Hand und völlig weggetreten vor. Sie wollte nett
sein und die alte Dame zum Abendessen holen.
Aaron sitzt schon im Speisesaal und hält den Platz links neben sich frei. Hat das Warzengesicht vom Tisch verjagt und woanders
hingeschickt. Wahrscheinlich will er Klara die Ferkeleien des Alten nicht zumuten.
Klara sitzt in ihrem Sessel und schaut fern, wie die Pflegerin es nennt, wenn die Alten diesen Tausendmeterblick bekommen.
Sie beugt sich über Klara und atmet durch die Nase ein und macht ein trauriges Gesicht. Nun ist es wohl zum ersten Mal passiert.
Frau Simon, Sie müssen aufstehen und mit mir ins Bad kommen.
Klara holt den Tausendmeterblick an einer langen Leine ein, sieht die nette Pflegerin an und riecht im gleichen Augenblick
ihr Unglück. Henriette, sagt sie und legt beide Hände auf ihren Schoß und die ganze feuchte Schande. Ich habe mich an Henriette
erinnert. Die immer mit der Kaffeekanne reden musste. Und schwarze Haare hatte. Jedenfalls, als ich sie kannte.
Wer ist denn Henriette, fragt die Pflegerin und hievt Klara aus ihrem Sessel. Viel Hoffnung hat sie nicht, dass sich nun etwas
zusammenreimt. Die alte Dame ist völlig allein und ohne Familie hergekommen. Verwirrt noch dazu, wobei sich das dann ja wieder
gebessert hat. Im Krankenhaus jedenfalls wollten sie sie damals nicht mehr haben. War ja kerngesund, körperlich. Und als sie
imHeim dann wieder bei Verstand war, hat man ihr den Fragebogen hingelegt, und da hat sie bei der Frage nach Familienangehörigen
»keine« angekreuzt. Nun also Henriette. Vielleicht doch, denkt die Pflegerin und lächelt. Vielleicht ist da eine, die sich
ein bisschen um Klara kümmern kann.
Im kleinen Bad, das Klara sich mit der Frau aus dem Nachbarzimmer teilt, wird der Uringeruch noch stärker. Klara schiebt die
nette Pflegerin raus aus der Nasszelle und sagt, sie könne das nun alles allein, und wer sich so gehenließe, müsse es dann
auch selbst wieder richten. Das findet die Pflegerin zwar auch, aber die Wahrheit liegt in diesen Fällen nicht in der Mitte.
Wer sich hier im Heim in die Hosen macht, kann das in den seltensten Fällen wieder selbst in Ordnung bringen. Da helfen dann
nur noch Windeln. Inkontinenzmaterial, wie sie das hier nennen, als machte es einen Unterschied.
Sie wird Klaras Unglück noch nicht bei der Chefin melden. Die ist immer ganz schnell mit dem nächsten Schritt zur höheren
Pflegestufe zur Hand. Dreimal in die Hosen gemacht, und schon wird man hier ein Windelkind. Die Pflegerin wirft ihren roten
Zopf über die Schulter, schaut sich Klara noch einmal an und verlässt das Badezimmer. Die alte Dame ist zäh. Sie wird sich
widersetzen, solange sie kann.
Klara zieht sich aus und schmeißt die stinkenden Sachen in die Dusche. Nackt steigt sie schließlich selbst hinein und dreht
den Temperaturregler auf 50 Grad. Sie hat heißes Wasser schon immer gemocht. Es konnte ihr nie heiß genug sein. Und nun möchte
sie sich am liebsten die Haut abbrühen, um den Uringeruch loszuwerden. Sie trampelt mit ihren kleinen Füßen, an denen die
Haut noch erstaunlich glatt ist, auf den Kleidungsstücken rum. Sie baut aus einem Duschbad, das rückfettende Wirkungverspricht, Schaumberge auf ihrem vernarbten Torso. Dass sie hier noch stehen kann und Schaum schlagen und nicht von einem
rollenden Gefährt in eine Wanne gehievt wird, unter Aufsicht einer Pflegerin, die ihr beim Waschen in jede Hautfalte greift,
freut sie. Es sollte so bleiben, wünscht sich Klara. Möglichst lange. Wenn sie nur oft genug mit Aaron redet, wird ihr Verstand
weiter arbeiten. Weil er sich anstrengen muss, der Verstand, und Aaron doch irgendwie ein Mann ist. Das irgendwie könnte sie
auch gleich streichen. Aaron ist ja wohl ein Mann. Er hat seine Hand auf ihren Schenkel gelegt, und im Park hat er sie gerettet.
Sie weiß es. Sie hat es der Kellnerin angesehen, die so erstaunt geschaut
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