Alle Zeit - Roman
hat, als sie plötzlich eine heiße Schokolade bestellen
konnte.
Klara wickelt sich in das große weiße Handtuch und findet sich nun, da die Narben nicht mehr zu sehen sind, wieder schöner.
Sie hebt die nasse Kleidung aus der Dusche, spült sie im Waschbecken noch einmal lange nach und packt sie dann in eine große
Plastiktüte. Nichts zum Aufhängen hier. Wäsche aufhängen dürfen nur die, die noch ganz und gar bei Verstand sind. Sie wird
sowieso Ärger bekommen, wegen der nassen Sachen. Aber immer noch besser, als vollgepinkelt im Sessel zu sitzen. Klara erinnert
sich, dass sie erst mit fünfzig Jahren angefangen hat, das Wort pinkeln zu benutzen. Es ist ihr nicht einfach gefallen, aber
pullern fand sie für eine Fünfzigjährige auch seltsam, und solche Sätze wie: Für kleine Mädchen gehen, kamen ihr schon gar
nicht mehr über die Lippen.
Klara geht zum Schrank und zieht sich an. In der richtigen Reihenfolge und passend zur Jahreszeit. Warme Unterwäsche, ein
weites, flauschiges, dunkelgrünes Kleid, von dem sie nicht mehr weiß, wann und wo sie es gekauft hat. Eine weinrote Strickweste
darüber, dicke braune Stützstrümpfe, die ihren wenigen Krampfadern Einhalt gebietensollen, und flache braune Lederschuhe. Sie kämmt sich die Haare und steckt sie mit zwei braunen Hornkämmen nach hinten. Sie
geht noch einmal ins Bad und kramt aus den tiefsten Tiefen eines schrill gemusterten Kulturbeutels einen Lippenstift. Mit
dem malt sie ein wenig ungeübt auf ihren Lippen rum. Sie prüft, ob das Gebiss noch ausreichend Halt hat für ein Abendessen,
und macht sich auf den langen Weg in den Speisesaal. Dort sitzen nur noch vier Menschen.
Einer davon ist Aaron, der sich seine Brote in ganz kleine Stücke geschnitten hat, um die Zeit zu dehnen oder das Essen zu
verlängern. Als er Klara sieht, fängt er an zu lächeln und kann damit nicht aufhören, bis sie ihm gegenüber am Tisch sitzt
und nach den jämmerlichen Resten greift, die noch zu haben sind. Es gefällt ihm, wie Klara mit königlicher Geste Früchtetee
aus einer Thermoskanne in ihre Tasse gießt und daraus trinkt, als sei es Champagner geworden. Und ihm gefällt auch, wie sie
ihr Haar gesteckt hat. Fast möchte er glauben, ihm zu Gefallen. Er lächelt Klara an. Sie lächelt zurück und sagt: Mir ist
ein Malheur passiert, aber ich habe es allein wieder richten können.
Solange das geht, antwortet Aaron, ticken die Uhren noch.
Olaf ist ein sonderbarer Erzähler. Er hat keinen Sinn für Pointen, kostet aber die Geschichte, deren Extrakt recht dürftig
ist, lange aus. Vor allem aber verlässt er sie andauernd, um von anderen Dingen und Ereignissen zu berichten. Er ist ein Mann,
der Zeit braucht und die Geduld seiner Zuhörerinnen. Als deine Mutter das Haus verkauft hat, bekam sie dafür ja noch DDR-Mark.
Viel war es nicht, wir haben damals drüber gesprochen. Du hattest ja wohl schon lange keinen Kontakt mehr mit Klara.
Olaf schaut zu Henriette und wartet ein paar Sekunden. Die aber schweigt. Alles andere wäre auch mehr als ein kleines Wunder,
denkt Elisa und ist doch enttäuscht. Als hätte sie hoffen können, auf so einfache Weise zu erfahren, warum Henriette Klara
endgültig und auf ewig verlassen hat.
Jedenfalls war es nicht viel Geld, so um die achtzigtausend DDR-Mark, achttausend West nach dem damaligen Umtauschsatz.
Dem illegalen Umtauschsatz, sagt Henriette und lächelt verschämt. In solchen Dingen kann sie das Insistieren nicht lassen.
Dem illegalen, pflichtet Olaf ihr bei. Ich glaube, Klara hat fast das ganze Geld weggegeben, nachdem sein Wert durch die Währungsunion
sowieso geschrumpft war.
Wem hat sie es denn gegeben, fragt Elisa und mischt sich nun doch ein. Sie denkt an Juli, die keine Urgroßmutter hat und deren
Großmutter ihr nichts vererbenwird, weil sie kaum etwas besitzt. Olaf schaut Elisa an, als überlegte er, ob sie es wirklich wissen sollte. Deinem Bruder,
glaube ich.
Henriette zieht Luft durch die Zähne und grinst töricht. Olaf?
Ja, sagt Olaf. Ich finde es übrigens schön, dass du deinen Sohn Olaf genannt hast, Henriette.
Elisa kann sich nur noch wundern. Und das tut sie. Ihr Bruder ist offensichtlich nach dem Baumhausgeliebten ihrer Mutter benannt
worden und hat von ihrer Großmutter Geld bekommen. Starthilfe für seinen endgültigen Weggang aus diesem Land und aus ihrem
und dem Leben ihrer Mutter. Elisa vermisst Olaf nicht sehr, aber sie weiß, dass Henriette sich
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