Alle Zeit - Roman
ein fremdes Nest zu setzen und dort auszuharren.
Niemand von uns konnte sich wirklich mit den beiden bekannt machen. Gerade mal, dass sie grüßten, wenn sie einem über den
Weg liefen. Sie schienen hier oben die einsamsten Menschen zu sein. Nur auf sich gestellt und bezogen. Ganz und gar unscheinbar
im Äußeren, wenn manmal davon absieht, dass er ein durch eine große Narbe ziemlich verunstaltetes Gesicht hatte. Die Kinder hier fanden ihn jedenfalls
gruselig und spielten manchmal: Das Narbengesicht kommt und holt dich bei Nacht. Vielleicht hat er das ja gewusst. Oder ahnte
es.
Zwei Jahre ging es so. Mit den beiden. Sie kamen und fuhren wieder, und niemand von uns konnte irgendetwas über sie sagen.
Außer, dass es sie gab. Dann veränderte sich alles. Langsam und allmählich, so dass man es kaum spürte. Es passierte hin und
wieder, dass die beiden sich auf der Terrasse stritten. Nicht laut, aber in dieser Stimmlage, die mehr Zischen ist als Reden
und weit trägt. Über den Gartenzaun sozusagen. Sie stritten über Belanglosigkeiten, wie meine Mutter sagte. Darüber, ob man
nachts im Schlafzimmer das Fenster aufmacht oder geschlossen lässt. Über Einkäufe und vermeintlich oder wirklich unsinnige
Anschaffungen. Meist war sie lauter als er und auch beharrlicher, wenn es darum ging, recht zu behalten. Er machte fast immer
irgendwann einen Rückzieher, den er mit den Worten: ist doch nicht so wichtig, einleitete. Danach zog sie dann noch ein ausführliches
Resümee, bevor sie sich zufriedengab. Man konnte ihm ansehen, wenn der Streit ihm naheging. Dann rötete sich seine Narbe.
Das sah seltsam aus, denn die übrige Gesichtshaut blieb weiß.
Später dann passierte es hin und wieder, dass die beiden zu einer Wanderung aufbrachen und getrennt wieder heimkehrten. Immer
kam er zuerst. Er ging ins Haus, zog sich um, setzte sich auf die Terrasse, wenn das Wetter danach war, las ein Buch, und
wenn auch sie dann viel später heimkehrte, legte er das Buch weg und folgte ihr ins Haus. Dann blieben die beiden lange verschwunden,
und wenn sie wieder zum Vorschein kamen, schien alles in Ordnung zu sein.
Die dritte Phase, wie meine Mutter es dann nannte, bestand darin, dass die beiden nicht mehr gemeinsam hierherkamen, sondern
getrennt. Immer im Wechsel. Ein Wochenende er, das nächste Wochenende sie. Und ganz zum Schluss brachte er ein paar Mal eine
andere Frau mit. Die war das, was meine Mutter ein Flittchen nannte und mein Vater eine lustige Witwe. Sie hatte blondes,
hochtoupiertes Haar und trug, trotz einiger Krampfadern an den Waden, ziemlich kurze Röcke. Und sie hatte eine laute, ordinäre
Stimme. Allerdings war sie zu ihm sehr zärtlich. Wenn die beiden auf der Terrasse saßen, stellte sie sich manchmal hinter
ihn und streichelte seinen Kopf, den er dann nach hinten fallen ließ mitten hinein in ihr weiches Fleisch. Ich habe einmal
gesehen, wie sie dann, in einem solchen Moment, mit dem Zeigefinger über seine Narbe gefahren ist und dabei ein Liedchen gesummt
hat. Irgendein Kinderlied war das. Er hatte die Augen geschlossen und sah zum ersten Mal, glaubte ich, wirklich glücklich
aus.
Die beiden waren vielleicht vier oder fünf Mal hier, und in der Zeit sah man seine Ehefrau gar nicht mehr. Hier vermuteten
alle, dass die beiden inzwischen geschieden waren. Auf jeden Fall aber täuschten wir uns in einem. Die Ehefrau oder Ex-Ehefrau
war nicht verschwunden. An einem Wochenende tauchte sie hier auf und ging, wie die Karikatur einer betrogenen Frau, auf die
lustige Witwe los. Wir haben an den Zäunen gestanden und zugeschaut, wie trottelige Voyeure. Keinem von uns kam in den Sinn,
dass man da auch einschreiten könnte oder zumindest darauf bestehen, dass die drei ihre Fehde drinnen im Haus austrugen. Wer
da nun wirklich gewonnen hat, konnte man am Ende nicht sagen. Auf jeden Fall reiste der Mann Hals über Kopf mit seiner lustigen
Witwe ab. Und das war dann auch das letzte Mal, dass wir ihn gesehen haben.
Olaf hält atemlos inne und schaut Henriette an, deren Blick an Elisa festhängt. Elisa starrt auf Olafs Bauch, der den Pullover
gut ausfüllt und einen festen, muskulösen Eindruck macht. Zumindest aus dieser Entfernung. Ein paar Sekunden halten sie das
magische Dreieck mit den Augen, bevor Henriette das Spiel verliert. Sie steht auf und murmelt etwas wie noch einen Kaffee
kochen und fängt an, in der Küche zu hantieren, als gehöre die ihr. Olaf setzt sich
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