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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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ein fremdes Nest zu setzen und dort auszuharren.
    Niemand von uns konnte sich wirklich mit den beiden bekannt machen. Gerade mal, dass sie grüßten, wenn sie einem über den
     Weg liefen. Sie schienen hier oben die einsamsten Menschen zu sein. Nur auf sich gestellt und bezogen. Ganz und gar unscheinbar
     im Äußeren, wenn manmal davon absieht, dass er ein durch eine große Narbe ziemlich verunstaltetes Gesicht hatte. Die Kinder hier fanden ihn jedenfalls
     gruselig und spielten manchmal: Das Narbengesicht kommt und holt dich bei Nacht. Vielleicht hat er das ja gewusst. Oder ahnte
     es.
    Zwei Jahre ging es so. Mit den beiden. Sie kamen und fuhren wieder, und niemand von uns konnte irgendetwas über sie sagen.
     Außer, dass es sie gab. Dann veränderte sich alles. Langsam und allmählich, so dass man es kaum spürte. Es passierte hin und
     wieder, dass die beiden sich auf der Terrasse stritten. Nicht laut, aber in dieser Stimmlage, die mehr Zischen ist als Reden
     und weit trägt. Über den Gartenzaun sozusagen. Sie stritten über Belanglosigkeiten, wie meine Mutter sagte. Darüber, ob man
     nachts im Schlafzimmer das Fenster aufmacht oder geschlossen lässt. Über Einkäufe und vermeintlich oder wirklich unsinnige
     Anschaffungen. Meist war sie lauter als er und auch beharrlicher, wenn es darum ging, recht zu behalten. Er machte fast immer
     irgendwann einen Rückzieher, den er mit den Worten: ist doch nicht so wichtig, einleitete. Danach zog sie dann noch ein ausführliches
     Resümee, bevor sie sich zufriedengab. Man konnte ihm ansehen, wenn der Streit ihm naheging. Dann rötete sich seine Narbe.
     Das sah seltsam aus, denn die übrige Gesichtshaut blieb weiß.
    Später dann passierte es hin und wieder, dass die beiden zu einer Wanderung aufbrachen und getrennt wieder heimkehrten. Immer
     kam er zuerst. Er ging ins Haus, zog sich um, setzte sich auf die Terrasse, wenn das Wetter danach war, las ein Buch, und
     wenn auch sie dann viel später heimkehrte, legte er das Buch weg und folgte ihr ins Haus. Dann blieben die beiden lange verschwunden,
     und wenn sie wieder zum Vorschein kamen, schien alles in Ordnung zu sein.
    Die dritte Phase, wie meine Mutter es dann nannte, bestand darin, dass die beiden nicht mehr gemeinsam hierherkamen, sondern
     getrennt. Immer im Wechsel. Ein Wochenende er, das nächste Wochenende sie. Und ganz zum Schluss brachte er ein paar Mal eine
     andere Frau mit. Die war das, was meine Mutter ein Flittchen nannte und mein Vater eine lustige Witwe. Sie hatte blondes,
     hochtoupiertes Haar und trug, trotz einiger Krampfadern an den Waden, ziemlich kurze Röcke. Und sie hatte eine laute, ordinäre
     Stimme. Allerdings war sie zu ihm sehr zärtlich. Wenn die beiden auf der Terrasse saßen, stellte sie sich manchmal hinter
     ihn und streichelte seinen Kopf, den er dann nach hinten fallen ließ mitten hinein in ihr weiches Fleisch. Ich habe einmal
     gesehen, wie sie dann, in einem solchen Moment, mit dem Zeigefinger über seine Narbe gefahren ist und dabei ein Liedchen gesummt
     hat. Irgendein Kinderlied war das. Er hatte die Augen geschlossen und sah zum ersten Mal, glaubte ich, wirklich glücklich
     aus.
    Die beiden waren vielleicht vier oder fünf Mal hier, und in der Zeit sah man seine Ehefrau gar nicht mehr. Hier vermuteten
     alle, dass die beiden inzwischen geschieden waren. Auf jeden Fall aber täuschten wir uns in einem. Die Ehefrau oder Ex-Ehefrau
     war nicht verschwunden. An einem Wochenende tauchte sie hier auf und ging, wie die Karikatur einer betrogenen Frau, auf die
     lustige Witwe los. Wir haben an den Zäunen gestanden und zugeschaut, wie trottelige Voyeure. Keinem von uns kam in den Sinn,
     dass man da auch einschreiten könnte oder zumindest darauf bestehen, dass die drei ihre Fehde drinnen im Haus austrugen. Wer
     da nun wirklich gewonnen hat, konnte man am Ende nicht sagen. Auf jeden Fall reiste der Mann Hals über Kopf mit seiner lustigen
     Witwe ab. Und das war dann auch das letzte Mal, dass wir ihn gesehen haben.
    Olaf hält atemlos inne und schaut Henriette an, deren Blick an Elisa festhängt. Elisa starrt auf Olafs Bauch, der den Pullover
     gut ausfüllt und einen festen, muskulösen Eindruck macht. Zumindest aus dieser Entfernung. Ein paar Sekunden halten sie das
     magische Dreieck mit den Augen, bevor Henriette das Spiel verliert. Sie steht auf und murmelt etwas wie noch einen Kaffee
     kochen und fängt an, in der Küche zu hantieren, als gehöre die ihr. Olaf setzt sich

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