Alle Zeit - Roman
Frau, in die er sich verliebt hat. Im verrückten Alter von achtzig. Aus Angst vor dem Sterben und vor dem
Blödwerden. Aus Verzweiflung und weil es niemanden mehr interessiert, dass er ein vergessener Jude ist. Außer Klara, die immer
wissen will, was früher war, und es nicht lassen kann, ihn danach zu fragen. Als ob es einen Sinn habe, heute darüber zu reden,
hier, in dieser Endstation, wo sie alle nur warten. Darauf, dass es gut gelingen möge, mit dem letzten Atemzug und dem Sterben.
Aaron denkt nach und stellt sich vor, wie er mit Klara. Versucht es sich vorzustellen. Da kommen fast nur komische Bilder
und ein paar gute. So nebeneinander zu liegen hätte bestimmt etwas Tröstliches. Da ist er sich ganz sicher. Sich anfassen
wäre vielleicht schon schwieriger. Er hat Klara schon gesehen, so ist es nicht, ihren ziemlich zerstörten Körper, der an einigen
Stellen noch so junge Haut hat. Hat ihn auch nicht erschreckt, er kennt wahrhaftig Schlimmeres. Aber es ist Klaras zerstörter
Körper, und das macht die Dinge schwierig.
Klara sitzt ganz still und glaubt, mindestens drei Schritte zu weit gegangen zu sein. Welcher Teufel hat sie geritten, sich
einem alten Mann anzubieten, wo sie bald sterben wird und runzlig ist an den meisten Stellen. Sie sitzt und wartet und denkt
an Franz, wie er ihr manchmal unter den Rock gegriffen hat, wenn sie in der Küche stand. Und wiesie dann immer unwillig nach der Männerhand geschlagen hat, weil es ihr völlig unpassend schien, die Finger vom Franz zwischen
den Beinen zu haben und dabei einen Kuchenteig zu rühren.
Aarons Finger drücken und tasten weiter auf Klaras Schenkel. Er schaut sie an, die alte Frau, und sagt: Wir sollten das nicht
hier versuchen, Klara. Das ist unter unserer Würde. Meinst du nicht auch? Stell dir vor, eine von den Pflegerinnen kommt rein.
Klara nickt. Sie meint es auch. Sie findet sowieso, dass hier vieles unter ihrer Würde ist. Letztens erst hat sie diesen Drachen
von Pflegerin dabei erwischt, wie sie der Alten aus dem Zimmer ganz hinten rechts eine riesig große Schüssel mit Quark ins
Zimmer brachte. Klara weiß, was Sache ist. Die Alte hat vergessen, wie das Gefühl ist, satt zu sein. Sie schreit ständig nach
Essen. Und wenn das dem Drachen zu viel wird, stellt sie eine Schüssel Quark hin. Dann stopft die ewig hungrige Alte alles
in sich rein. So lange, bis sie kotzen muss. Und das freut den Drachen. So hat er sich gut gerächt an der Nervensäge, die
nichts dafür kann, dass sie eine Nervensäge ist. Aber doch alle zur Weißglut bringt. So sehr, dass sich eine Pflegerin sogar
ordentliche Foltermethoden ausdenken kann, um den Druck loszuwerden. Die nette mit dem Zopf täte so etwas wahrscheinlich nicht.
Aber wer weiß. Sie ist noch nicht so lange da.
Wir werden in ein Hotel gehen, Klara. Aaron lächelt und steht auf. Wir gehen in den Park und aus dem Park raus in ein Hotel
und mieten uns ein Zimmer für eine Nacht. Was hältst du davon, Klara?
Sie mag den Gedanken. Mit Aaron in einem Hotel zu sein ist ein Abenteuer, das ihnen zusteht. Egal, ob sie in dem Hotelbett
etwas miteinander anfangen können oder nicht. Sie würden sich das Frühstück ans Bett bringen lassen. Oder nein. Lieber nicht,
Frühstück ans Bett ist fürAlte ja wohl eher das Ende vom Lied. Sie würden im Hotelrestaurant frühstücken. Und zu Abend essen natürlich auch. Dann noch
ein wenig spazieren gehen, der Rest wird sich schon irgendwie ergeben. Klara schaut auf die abgeschnittenen Gardinen. Warum
sind die abgeschnitten? Können die in dem Pflegeheim nicht mal anständige Gardinen an die Fenster bringen? Klara nimmt Aarons
Hand und zieht ihn zur Tür. Lass uns noch mal schauen, ob wir im Park das Mädchen finden.
Juli schaut sich ein letztes Mal um. Die Wohnung ist leer und sieht nun schäbig aus. So schäbig, dass Juli hofft, Svenja werde
sich an die ersten Lebenswochen nicht erinnern, wenn sie einmal größer ist. Erinnerung fängt ja erst mit drei an, murmelt
Juli und dreht sich um. Unten steht der Mann der Hebamme mit seinem Auto im Halteverbot. Sie muss sich beeilen, sonst bekommt
er noch einen Strafzettel. Juli haucht Svenja einen dünnen Kuss auf die Wange und schließt die Wohnungstür. Den Schlüssel
steckt sie unten in den Briefkasten der Verwaltung. So ist es abgemacht.
Der Mann der Hebamme steigt aus dem Auto und öffnet die hintere Tür. Er ist nett, denkt Juli, ein richtiger Kavalier. Sie
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