Alle Zeit - Roman
Juli guckt gebannt und hat ein wenig Angst. Die Gestalt geht
vom Fenster weg und in ein anderes Zimmer. Kommt nach einer Minute wieder mit einer Flasche in der Hand und einem seltsamen
Hut auf dem Kopf. Ein großer runder Hut, ringsum mit einem dünnen Netz bespannt. Wie ihn Bienenzüchter tragen. Aber nackt
ist sie immer noch, die Gestalt. Sie öffnet die Balkontür und tritt heraus, wie ein Gespenst. Nimmt die Flasche und fängt
an, die üppigen grünen Balkonpflanzen zu besprühen.
Juli richtet sich im Bett auf und sitzt kerzengerade. Jetzt sieht sie nur den nackten Oberkörper der Gestalt. Bauch und Schwanz
und Beine sind hinter der Balkonbrüstung versteckt.
Das Besprühen der Pflanzen dauert lange. Jedes Blatt kommt einzeln dran, wird gedreht und beschaut und gewendet, bevor die
Sprühflasche zum Einsatz kommt. Einmal hebt die Gestalt den linken Arm und winkt zu Juli rüber. Zumindest sieht es so aus.
Die legt sich hin und zieht die Bettdecke über den Kopf und hört, wie es dumpf an ihre Zimmertür klopft.
Die Hebamme kommt noch einmal rein, wirft einen schnellen Blick rüber zum Balkon und setzt sich an Julis Bett. Der ist ein
bisschen verrückt da drüben. Das hatte ich vergessen, dir zu sagen. Aber völlig harmlos, du musst keine Angst haben. Ist schon
ein alter Mann und lebt nur noch für seine Pflanzen. Was immer er sprüht, sie scheinen es zu mögen. Guck dir nur mal an, was
das für Riesenteile sind.
Juli lächelt und ist sich nicht sicher. Ob sie Angst haben soll oder es besser lustig findet. Aber sie kann nicht in dem Zimmer
wohnen und Angst vor der Gestalt haben. Die Hebamme streicht ihr über den Kopf und geht aus dem Zimmer.
Juli legt sich hin und denkt an Jakob. Besser, wenn sie ihn findet. Dann hat Svenja einen Vater. Und wenn ihr, Juli, einmal
etwas passieren sollte, wäre das wichtig. Sie könnte ja jetzt auch einen Vater gebrauchen. Elisa hat immer geschwiegen, aber
das war ein Fehler. Mit einem Vater wären die Dinge einfacher. Selbst wenn er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Wüsste sie
doch, dass es noch einen Menschen gibt auf der Welt, der was mit ihr zu tun hat. Ein Verwandter. Wie Olaf, der Bruder von
Elisa. Von dem niemand weiß, wo er ist und warum er überhaupt verschwand. Juli atmet tief ein und aus und fängt die nächsten
Tränen ab. Auf dem Balkon gegenüber steht die Gestalt und hebt das Netz vor den Augen hoch. Sie schaut in Julis Zimmer und
winkt noch einmal vage herüber. Als sei sie sich nicht sicher, ob da jemand ist.
Der Weg zurück ist lang. Henriette schweigt, und Elisa denkt an Juli. In ihrem Bauch macht sich erneut das Gefühl breit. Sie
wird Juli nicht wiedersehen. Denkt sie. Es gibt keinen Grund, das zu glauben, aber sie denkt es. Dabei ist Juli noch ein Kind.
Sie wird ohne mich nicht klarkommen.
Henriette schreckt auf und fragt sich, warum ihre Tochter nun anfängt, mit sich selbst zu reden. Sie dreht sich um und schaut
Elisa ins Gesicht. Was ist los, mein Kind, fragt sie und ist für einen Moment tatsächlich so, wie eine Mutter sein sollte.
Besorgt, bekümmert, bereit zum Trost. Elisa wird gleich heulen. Gleich wird sie losheulen. Es drückt schon hinter den Augen.
Sie bückt sich und wühlt im Schnee, als hätte sie die Uhr verloren. Heute Abend wirst du mir erzählen, was mit Klara war.
Sonst fahre ich ohne dich nach Hause.
Henriette steht ganz still und wundert sich. Mehr nicht. Sie wundert sich nur, dass ihre Tochter nicht schon früher auf den
Gedanken gekommen ist. Sie zu erpressen. Mit Liebesentzug. Sie ist zu anständig, denkt Henriette. Sie hat sich nie getraut.
Und nun traut sie sich und ist nicht froh darüber.
Wir sind mit den Hanullern verabredet.
Vorher oder nachher, sagt Elisa. Du bestimmst.
Henriette stellt sich vor, wie sie beide nach einem Abend mit den Modelleisenbahnern im Bett liegen und über Klara reden.
So wie am Abend zuvor, aber doch anders.Endgültig. Sie stellt sich vor, wie es wäre, sich zu verweigern. Es ist ihre Geschichte und die von Klara. Elisa gehört da
nicht rein. Sie kann ja tun, was sie will, denkt Henriette und schämt sich, dass sie es so denkt. Sie kann ja tun, was sie
will. Soll sie zu Klara gehen und sich anhören, was noch übrig ist an Erinnerungen. Es wäre Verrat. Verrat an ihr, der Mutter,
aber soll sie es doch machen.
Elisa schaut zu, wie ihre Mutter eine winzige Wut entwickelt. Auf ihre Tochter. Sie kann es sehen. Das ist ein offenes
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