Alle Zeit - Roman
Buch.
Es liest sich leicht nach so vielen Jahren. Sie stapft drei Schritte auf Henriette zu und nimmt deren Hand. Sie zieht die
Mutter hinter sich her, als sei alles gesagt und nichts mehr offen. Henriette setzt einen Fuß vor den anderen und ist ein
willenloses Bündel. Eben noch ein bisschen wütend. Auf ihre eigene Tochter. Und nun zieht sie die Beine durch den Schnee wie
eine alte Frau.
Im Hotel bestellt Elisa zwei Kännchen Tee aufs Zimmer. Das gehört eher nicht zum Service. Aber der Tee wird gebracht, und
Elisa rührt in Henriettes Tasse drei Stück Würfelzucker. Würfelzucker, denkt sie beim Rühren, wo sind wir hier eigentlich.
Können die nicht mal aufhören mit dieser Ostattitüde. Wissen die nicht, wie man einen anständigen Tee serviert. Sie nimmt
den Telefonhörer ab und wählt die Nummer der Rezeption. Ich hatte zwei Kännchen Tee bestellt, sagt sie in den Hörer und reibt
dabei die kalten Oberschenkel aneinander. Was wir bekommen haben, schmeckt wie Spülwasser.
Henriette kann nicht hören, wie groß die Empörung am anderen Ende ist. Größer als die von Elisa offensichtlich, denn die legt
auf und starrt ihre Mutter an, als sähe sie die zum ersten Mal. Die haben gesagt, es hätte sich noch nie jemand beschwert.
Über ihren Tee. Ich gehe duschen.
Das Wasser peitscht auf Elisas Körper ein. Sogar die Mischbatterie, denkt Elisa, ist ostig. Keine Minute hältdie Temperatur. Elisa wechselt die Bäder, als sei es ein selbstverordnetes Programm zur Abhärtung. Sie stellt sich vor, wie
Henriette auf dem Hotelbett sitzt und einen Schlachtplan entwirft. Für den Abend und um das Unvermeidliche zu umschiffen.
Elisas Hände nehmen abwechselnd die Seife und den Peelinghandschuh. Die Haut ist schon ganz rot, und erste Striemen zeigen
sich auf Bauch und Oberschenkeln. Sie muss Henriette Zeit geben für deren Schlachtplan. Er wird ihr nichts nützen. Noch zwei
Stunden bis zum Abendbrot. Sie könnten Klara auch jetzt aus der Welt schaffen. Zwischen Nostalgiewanderung und Abendessen.
Weg mit der alten Dame, weg mit der Großmutter. Vielleicht hat Henriette recht. Juli braucht keine Urgroßmutter, und ihr,
Elisa, ist die Erinnerung nur noch eine vage Angelegenheit im Kopf. Manchmal riecht es irgendwo nach Klara. Aber wahrscheinlich
haben alle Großmütter nach Lavendel und Veilchen geduftet und sich so ins olfaktorische Gedächtnis gegraben. Unspezifische
Erinnerung, denkt Elisa und überlegt, wo sie diesen seltsamen Begriff herhat.
Sie steigt aus der Dusche und wickelt sich das falsche Handtuch um den nassen Körper. Henriette wird böse sein. Sie mag es
nicht, wenn man ihre Handtücher benutzt. Früher, wenn es doch aus Versehen passierte, weil sie oder Olaf wieder nicht aufgepasst
hatten, steckte Henriette das falsch benutzte Handtuch sofort in die Wäsche. Mit Waschlappen war es noch viel schlimmer. Henriette
hat sich einen Haken in die Wand schlagen lassen, der so hoch war, dass die beiden Kinder nicht an die Waschlappen der Mutter
herankamen. Aus Versehen nicht und auch nicht aus Absicht.
Elisa steht vor dem Spiegel, in das Handtuch ihrer Mutter gewickelt, und überlegt, wie sie das jetzt kaschieren kann. Es bringt
sie in eine schlechtere Position, undgerade hat sie sich eine kleine Überlegenheit erobert mit ihrem Ultimatum. Sie geht ins Zimmer. Henriette liegt auf dem Bett
und hat die rechte Hand aufs Herz gelegt. Sie dreht den Kopf, um Elisa anzuschauen. Du hast mein Handtuch benutzt.
Elisa nickt und wartet ab. Die Zeiten könnten sich geändert haben. Du kannst nachher meins nehmen. Die Pause war zu lang.
Henriette konnte schon immer die längeren Pausen lassen. Kleine Siege hat sie damit errungen. Elisa lächelt, und Henriette
lächelt zurück. Ich habe noch eins im Koffer.
Also nicht einmal ein halber Sieg. Aber auch keine Niederlage.
Elisa geht zurück ins Bad, hängt das Handtuch auf und fängt an, sich einzucremen. Sie beginnt mit dem Bauch und bleibt auch
sonst in der Reihenfolge. Bauch, beide Brüste, Schultern, rechter Arm, linker Arm, Rücken, soweit die Hände kommen, Hintern,
Oberschenkel erst hinten, dann vorn, beide Knie, Unterschenkel, rechter Fuß, linker Fuß, und da vor allem zwischen den Zehen.
Die Creme zieht schnell in die Haut ein. Als Elisa sich aufrichtet, sind ihre Schultern schon wieder matt und trocken. Sie
könnte von vorn anfangen und erläge einer alten Verzweiflung. Es gab Zeiten, da hat sie sich vier oder
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