Alle Zeit - Roman
schiebt sich mit Svenja auf die Rückbank. Der Mann stellt sich den Rückspiegel so, dass er Juli und Svenja drin sehen kann.
Er fährt sowieso nur mit den Seitenspiegeln, da kann er den Rückspiegel ruhig anderweitig nutzen. Da hinten sitzt sein neues
Leben. Zumindest fühlt er sich so. Wer weiß, wie lange die beiden Kinder da bei ihnen bleiben werden. Aber erst einmal ist
es so, dass sie da sind.
Juli lächelt in den Rückspiegel. Ich könnte heute Abend für uns alle Eierkuchen machen, sagt sie. Die gelingen mir jetzt schon
ganz gut.
Der Mann grinst und macht mit drei Fingern der rechten Hand eine Essensbewegung. Hat er einem italienischen Kellner abgeguckt.
Eierkuchen sind gut. Erinnern mich an früher und an meine Großmutter.
Juli schaut, als käme ihr erst jetzt in den Sinn, dass der Mann so alt auch nicht ist. Hat zwar einen erwachsenen Sohn, aber
zeitig angefangen. Mitte vierzig, denkt Juli, älter kann der doch nicht sein. Wie meine Mutter.
Musst du jetzt doch weinen, fragt der Mann und reicht eine Rolle Küchenpapier nach hinten. Juli wickelt fünf Lagen auf einmal
ab und versteckt sich dahinter. Eigentlich denkt sie ja jeden Tag an Elisa. Und es kommt immer seltener vor, dass sie dann
gleich heulen muss. Aber jetzt, wo sie fortgeht aus der alten verranzten Wohnung, mit den ganzen Büchern von Elisa und Henriettes
Kaffeegeschirr und den immer noch nicht ausgepackten Kisten, ist der Verlust groß. So groß, dass sich fünf Lagen Küchenpapier
vollsaugen mit dem Elend.
Der Mann der Hebamme schweigt und fährt und überlegt, ob sie das alles wieder hinbekommen werden mit dem Kind, das ja nun
schon Mutter ist und selbst nicht weiß, wie das alles werden soll mit dem Leben. Hast du denn den Vater von Svenja gefunden?
Juli schüttelt den Kopf. Der Mann nimmt einen Schleichweg durch die Stadt, um schneller zu Hause zu sein. Seine Frau weiß
immer, was zu tun ist, wenn jemand weint. Sie hat noch nie was Falsches gemacht in solchen Augenblicken. Ihm fehlen da die
Worte, und alles andere ist auch unklar. Man kann so viel verbocken.
Juli ist fertig mit Weinen und schaut aus dem Autofenster. Sie kennt diese ganzen Straßen nicht, dabei wohnt die Hebamme nur
auf der anderen Seite des Parks. Wäre Juli jemals mit Svenja durch den ganzen Park gelaufen und auf der anderen Seite rausgegangen,
hätten die Straßen hier schon ein Gesicht. An einem Hotel, das sich mit großen Leuchtbuchstaben als Hotel am Park zu erkennen
gibt, biegt der Mann der Hebamme rechts rein. Jetzt sind wir gleich da.
Er hält vor einem alten, frisch sanierten Bürgerhaus. Quittegelb leuchten die Wände, und die Haustür ist zweiflüglig imposant.
Aus einem Fenster im dritten Stock schaut die Hebamme und winkt. Eine Minute später schreitet sie atemlos über den Bürgersteig
und kommt zum Auto. Sie öffnet die Autotür und greift sich Svenja. Juli nimmt zwei Taschen aus dem Kofferraum und steigt die
mit rotem Teppich belegten Treppenstufen rauf. Über der Wohnungstür hängt tatsächlich ein Herzlich willkommen. Juli ist schon
wieder zu Tränen gerührt. Sie geht in die Wohnung und folgt der Hebamme in ein Zimmer, das nun ihres und das von Svenja sein
wird. Gleich neben dem Zimmer ist eine winzige Kammer zum Schlafzimmer für Svenja umgebaut worden. Rot und rosa die Wände,
ein Gitterbett mit bunt bemalten Holzstäben in der Mitte. Die Hebamme legt Svenja ins Bettchen. Die schnieft nur einmal durch
die Nase und schläft weiter. Verschläft ihre ersten Minuten im neuen Zimmer.
Juli nimmt die Hebamme und drückt sie, bis der die Luft wegbleibt. Ich hab Henriettes Kaffeegeschirr in der Kiste. Das will
ich euch gleich schenken. Und die Bücher von Elisa stellen wir in euer Regal.
Die Hebamme lächelt, und ihr Mann räuspert sich gerührt. Musst nichts schenken. Nur Eierkuchen backen.
Am Abend liegt Juli in ihrem alten Bett im neuen Zimmer und schaut aus dem Fenster. Vom Bett aus kann sie ein Stück Himmel
sehen und gegenüber in eine Wohnung schauen. Der Balkon vor der Wohnung ist schwer mit Grünzeug beladen. Juli starrt durch
das erleuchtete Fenster und sieht eine Gestalt dahinter hin und her laufen. Eine kleine Gestalt, fast so klein wie ein Rumpelstilzchen,
denkt Juli und lächelt. Die Gestalt stellt sich ans Fenster und zieht sich aus. Jacke, Hemd, Unterhemd, Hose, Strümpfe, Slip.
Eine nackte Gestalt nun und immer nochklein und hutzlig. Noch kleiner ohne Sachen, fast wie ein Kind.
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