Alle Zeit - Roman
verzichten. Franz ist auch den ganzen Tag unterwegs, wer soll sich um das Kind
kümmern, wenn sie ins Krankenhaus geht und der Franz keine Zeit hat. Es hatjetzt gerade mit der Schule begonnen und macht sich da gar nicht schlecht. Kann schon fast alle Buchstaben und rechnen bis
zwanzig. Franz ist ganz und gar stolz auf die Tochter, die inzwischen auch gut ohne Kaffeekanne auskommt. Hin und wieder,
wenn sie Kummer hat, die Kleine, redet sie mit der Kanne, so wie früher. Aber das passiert nur noch selten.
Klara fragt sich manchmal, ob das Kind später, wenn es eine Frau ist, daran leiden wird, dass es mal ein Kaffeekannenkind
war. Sie kann sich vorstellen, dass so etwas Spuren hinterlässt. Viel weiß sie ja nicht von Psychologie. Aber dass es nicht
schadlos vorübergehen wird, wenn ein Kind ewig und immer die Kaffeekanne zur Vertrauten erklärt, das kann sie sich schon denken.
Nur später, das denkt sie auch, wird es Tabletten geben oder Therapien, mit denen sich eine erwachsene Frau die Kaffeekanne
aus dem Kopf holen kann.
Franz bleibt dabei, Klara muss zum Arzt, und er wird sie begleiten, wenn es sein muss. Also macht sie einen Termin, und bis
dahin vergehen noch zwei Wochen, so voll ist der Arztkalender. In den zwei Wochen redet sie nicht über den Knoten in der Brust,
und auch Franz schweigt. Als würde alles wahr, wenn sie begännen, darüber zu sprechen. Manchmal fasst Klara abends, wenn sie
sich in der Küche wäscht, nach der Stelle, und immer ist der Knoten da. Unverrückbar und, wie ihr scheint, ein wenig größer
als noch beim ersten Mal, als sie ihn ertastet hatte. Franz lässt sie in den zwei Wochen in Ruhe. Bis auf den letzten Abend
vor dem Untersuchungstermin. Da legt er sich auf sie und eine Hand auf die knotenfreie Brust und macht alles ganz sanft und
ruhig. So dass es Klara vorkommt, als sei dies ein Abschiedsgeschenk, eine letzte große Vertrautheit zwischen ihnen, bevor
das Leben irgendetwas von ihr fordern wird. Einen Tribut, eine Schuld, einenPreis dafür, dass sie beim Russen im Bett lag und ihm danach gefolgt ist in allem, was sie tat. Normalerweise kommen ihr solche
Gedanken nicht, aber der Knoten in der Brust macht sie nun doch ganz verrückt. Er ist eine Ankündigung, dass sich vieles ändern
wird.
Dem Kind ist Klara in diesen Tagen eine viel zärtlichere Mutter als sonst. Sie fasst es an, sooft es geht, und wundert sich,
wie weich die Haut des Mädchens ist und wie dünn sie sich anfühlt. Und das Kind hält still, wenn es angefasst wird. Zu ungewohnt
wahrscheinlich die Berührungen. Aber nun, da Klara nicht mehr das Gefühl hat, eine schmutzige Russenhure zu sein, will alles
nachgeholt werden. Franz schaut zu und ist sich nicht schlüssig, was es zu bedeuten hat, dass Klara nun plötzlich so zärtlich
wird. Er hat böse Ahnungen, aber die verschweigt er besser. Vielleicht wird ja alles noch gut, und der Kelch geht an ihnen
vorüber. Verdient hätten sie es, nach diesem Krieg und all ihrem Leiden darin.
Der Arzt ist ein alter Mann. Müsste eigentlich schon längst im Ruhestand sein, aber noch herrscht Mangel an Ärzten, und zu
Hause wartet niemand auf ihn. Also kann er genauso Frauen gute und schlechte Nachrichten überbringen. Er schickt Klara hinter
einen Paravent und sagt, sie solle den Oberkörper frei machen. Klara steht dann mit verschränkten Armen vor ihm. Sie mag ihre
Brust nicht zeigen. Der Arzt kennt das. Hat weniger mit Scham zu tun als mit dem Moment, da die Welt sich plötzlich ändert,
wenn er etwas sagt. So wie jetzt.
Er tastet mit geübten Fingern über Klaras Brust und fühlt den festen Knoten, der sich nicht bewegen lässt, und gleich daneben
noch einen. Das müssen wir genauer untersuchen, sagt er und weiß schon, was dabei rauskommen wird. Seit mehr als dreißig Jahren
ertastet er den Krebs im weichen, begehrenswerten Gewebe, er kenntdie Formen, in denen er daherkommt und die Frauen unglücklich macht.
Klara sieht ihn mit großen Augen an und fragt, ob er glaube, dass es Krebs sei. Und er sagt, was er immer sagt: Das kann man
jetzt noch nicht genau wissen, wir müssen erst einige Untersuchungen machen. Aber wenn es Krebs ist, werden wir operieren,
und dann haben Sie eine Chance. Das dürfen Sie nicht vergessen. Dass es immer eine Chance gibt.
Doch Klara hört ihm schon nicht mehr zu. Sie geht hinter den Paravent und zieht sich an und überlegt, ob der Franz mit dem
Kind auch allein klarkommen würde,
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