Alle Zeit - Roman
Ein Satz von Aaron. Sie würde esso nicht sagen: Meine Familie hat sich in Luft aufgelöst. Aaron darf das.
Klara fragt, wann seine Söhne ihn wieder besuchen kommen können. Das ist unverfänglich und hat trotzdem was mit Familie zu
tun. Aaron sagt, die seien jetzt wirklich beide weit fort. Der eine wäre nun endlich ins Land seiner Träume gekommen, nach
Kanada, um da Bären zu fangen und Bäume zu fällen. Klara lacht. Bäume fällen, so sehe der nicht aus, dieser Sohn. Ein Intellektueller
sei das, da wette sie drauf.
Natürlich fällt er keine Bäume, antwortet Aaron auf das kleine Klaralachen. Er baut Computer oder macht sie schlau oder besser.
Mein alter Verstand hat das nicht begriffen, als er versuchte, es mir zu erklären. Obwohl ich nicht dumm bin.
Klara findet, dass Aaron auf keinen Fall dumm ist. Daran ändert auch nichts, dass er nicht weiß, was genau sein Sohn da in
Kanada macht. Der andere, redet Aaron gleich weiter, habe jetzt endlich Arbeit gefunden. Auf dem Bau. Der sei ja schon immer
geschickt mit den Händen gewesen. Und vielleicht helfe ihm auch sein Archäologiestudium beim Verputzen von Wänden. Wer wisse
das schon. Es ist doch eine Schande, Klara, sagt Aaron und drückt ihre Hand etwas fester, dass der Junge so lange studiert
hat und nun seinen Kopf nicht mehr anstrengen muss. Oder darf. Wie man es nimmt.
Nun haben sie den Park hinter sich gelassen, und gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steht ein Hotel. Aaron zieht Klara
über die Straße, und die meint, ganz weit weg ein junges Mädchen mit grünen Haaren zu sehen, das einen Kinderwagen vor sich
herschiebt. Klara regt sich auf und zerrt an Aarons Hand und zeigt mit dem Finger auf das Mädchen. Aaron kneift die Augen
zusammen und kann nichts sehen. Jedenfalls nicht das, wasKlara sieht. Kein Mädchen, keinen Kinderwagen, keine grünen Haare. Klara ist sofort bereit, das zu glauben. Ihr Kopf funktioniert
ja schlechter als der von Aaron. Warum sollte sie sich da nicht auch ein grünhaariges Mädchen einbilden. Die Erinnerung ist
sowieso nur noch blass. Wie ein kleines Echo im Kopf, ohne größere Bedeutung. Nur so, dass ihr immer mal wieder das Mädchen
in den Sinn kommt. Weil sie sich an Henriette und Elisa erinnert hat. Deshalb. Weil sie nun weiß, und außer ihr weiß es niemand,
dass sie ganz allein ist in ihrem hohen Alter und in ihrer wachsenden Vergesslichkeit.
Henriette und Elisa sind beide tot. Davon muss sie Aaron auch erzählen. Aber erst vom Helmstedter. Wie konnte sie das nur
vergessen, mit den beiden Toten. Wie konnte sie nur vergessen, dass ihre Kaffeekannentochter nicht mehr lebt und die Tochter
der Tochter auch nicht.
Klara lässt Aarons Hand nicht los, sie drückt und knetet und kratzt mit kurzen Fingernägeln an seinen Lebenslinien. Der drückt
und knetet ein bisschen zurück. So, dass es ganz beruhigend wirkt. Und zieht Klara dabei zum Hotel und hinein in die große
Halle. Der Tresen ist größer als der im Pflegeheim. Und hier stehen gleich drei Leute und warten auf solche wie Aaron und
Klara.
Sie wünschen, fragt einer von den dreien und lächelt Klara zu und Aaron an. Ein Doppelzimmer, antwortet der. Ab morgen, für
ein oder zwei Nächte. Meine Frau und ich, sagt er und lässt den Satz einfach in der Luft hängen, als hätte der schon seine
Richtigkeit.
Klara hört ihr Herz. Aaron macht es wirklich wahr. Er bestellt ein Zimmer für sie beide. Sie werden heimlich eine Tasche packen
müssen und sich davonstehlen. Morgen schon. Nicht einmal die nette Pflegerin darf dann wissen, was sie vorhaben.
Aaron füllt einen Zettel aus, und Klara schielt von derSeite, was er da hinschreibt. Und das spottet jeder Beschreibung. Eine Stadt, aus der sie angeblich kommen, eine Straße, in
der sie angeblich wohnen, eine Hausnummer und sogar eine Telefonnummer schreibt er hin. Und bei Staatsbürgerschaft schreibt
er Deutschland, und Klara denkt, dass es so einem wie Aaron doch eigentlich immer noch schwerfallen muss, das hinzuschreiben,
wo sie ihm hier die ganze Familie in Luft aufgelöst haben. Klara trippelt mit den Füßen auf der Stelle und tut so, als interessierten
sie die Bilder an der Wand.
Brauchen Sie eine Anzahlung, fragt Aaron den jungen Mann hinterm Tresen, und der lächelt und schüttelt den Kopf und fragt
zurück, wann man denn morgen einchecke.
Einschecken, denkt Klara, das sollten sie uns mal im Heim fragen. Wann wir einschecken.
Gegen siebzehn Uhr,
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