Alle Zeit - Roman
fragen will, ob noch etwas fehlt. Und dann dreht sie wieder um. Kann sein, dassda gerade wieder jemand den Verstand verliert. Oder nur traurig ist. Die beiden machen ihr einen sehr verlorenen Eindruck.
Nicht unglücklich. Ganz und gar nicht. Aber verlassen, verraten, verkauft, verrückt, verelendet. Ein bisschen von allem.
Die Kellnerin wartet hinterm Tresen und hofft auf die Kindsmutter mit den grünen Haaren. Sie hätte ihr die Telefonnummer geben
sollen. Um endlich mal einen kleinen Anfang zu wagen. Gestern haben sie ihr gesagt, wie es aussieht. Gute Nachrichten waren
das nicht. Sie kann sich überlegen, ob sie es noch einmal probiert. Mit der Chemo und dem ganzen Drum und Dran. Oder ob sie
es lässt. Ihr Gefühl sagt, dass es besser wäre aufzugeben. Und jetzt könnte sie jemanden brauchen, um über das Gefühl zu reden.
Ob es stimmt, ob sie ihm nachgeben soll. Sie schaut zu den beiden Alten. Denen könnte sie wahrscheinlich alles erzählen. Die
hätten es womöglich morgen oder gleich nachher schon wieder vergessen. Da wäre also ihr Geheimnis mehr als gut aufgehoben.
Klara nimmt von dem Kuchen. Hier ein Stück und da ein Stück. Der Franz hat mich nie wieder angefasst. Er ist zu anderen gegangen.
Nicht so, dass es mich verletzen musste. Da war er sehr diskret. Aber klar, er war ein schöner Mann und ich nur eine zerstückelte
Frau. Das Haus aber haben wir uns gebaut. Gehungert haben wir dafür. Nicht das Kind, dem haben wir immer alles gegeben, was
es brauchte. Bis es sechzehn wurde. Dann kam das Unglück. Sie hat sich schwängern lassen, sagt Klara und schaut Aaron an,
was der wohl von dieser Geschichte hält.
Das kann passieren, sagt Aaron und stürzt Klara damit ins Unglück, als sei die Geschichte gerade erst geschehen.
Kann es nicht, bockt sie zur eigenen Rettung. Sie hat uns unmöglich gemacht, damals. Aber als das Kind da war,Elisa, und Henriette geheiratet hatte. Nicht den Vater des Kindes. Das hat sie uns ja nie erzählt, wer das war. Einen anderen
hat sie geheiratet. Kein schöner Mann, kein lieber Mann, ein kluger Mann. Das schon, aber er brachte Kummer mit. Viel Kummer.
Was habe ich Henriette weinen sehen. Und immer habe ich sie zurückgeschickt. Glaube ich. Trotzdem blieb sie die Tochter. Sie
kam mit ins Häuschen, wenn sie Urlaub hatte, und das Kind nahmen wir in den Ferien, wenn es ging.
Klara seufzt. Klara seufzt und weint ein bisschen. Sie findet es ungerecht, dass nun die Erinnerungen kommen. Wo sie gar nichts
mehr tun kann. Anstatt zu vergessen, wie man aufs Klo geht, wäre es doch besser, sie erinnerte sich nicht mehr an Henriette.
Was ist denn nur aus ihren Sachen geworden, denkt Klara. Henriette und Elisa müssen doch irgendetwas hinterlassen haben.
Aaron winkt der Kellnerin, und als die vor dem Tisch steht, glaubt er, dass sie fast noch trauriger ist als Klara. Aber mit
Kellnerinnen kennt er sich nicht so aus. Überhaupt mit jungen Frauen, das ist alles lange her, und heute weiß man nicht, ob
Traurigkeit nicht einfach dazugehört zum Leben. Wie eine dritte Haut sozusagen.
Die Kellnerin schreibt noch ganz altmodisch Zahlen auf einen Zettel, macht einen Strich drunter und addiert.
Vielleicht kommen wir morgen wieder, sagt Aaron. Haben Sie denn abends warme Küche?
Die Kellnerin nickt und müht sich, nicht erstaunt auszusehen. Von denen im Pflegeheim war noch nie jemand zum Abendessen hier.
Aber die beiden scheinen sowieso ein Eigenleben zu führen. Nur zu, denkt sie. Euch hat die Folter noch nicht kleingekriegt.
Aaron bezahlt und nimmt Klara wieder an die Hand. Sie brauchen eine halbe Stunde bis zum Heim. Klara schlurft plötzlich, als
wünschte sie sich, dass die Füße einfach aufdem Boden haften bleiben und nichts mehr vorwärtsgeht. Aaron zerrt ein wenig an ihr und findet es nicht schön, dass Klara
nun plötzlich wie ein kleines Kind einen halben Schritt hinter ihm bleibt.
Habe ich dir schon von Henriette erzählt, fragt Klara, und Aaron nickt traurig. Das hast du, Klara. Von Henriette und von
Elisa. Ich weiß jetzt etwas mehr über dich. Aber viel ist es nicht. Das schaffen wir auch nicht mehr in diesem Leben.
Habe ich dir schon erzählt, was Henriette gemacht hat, fragt Klara weiter. Hartnäckig. Jetzt will sie, dass Aaron an ihr teilhat.
Sich für sie mit erinnert. Dann muss sie das ganze Elend nicht allein tragen. Und für ein schlechtes Gewissen ist es zu spät.
Der Aaron hat ein viel größeres Elend zu tragen. Das aller
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