Alle Zeit - Roman
rechthaberische Jugendliche auf
Rachefeldzug. So hat sie sich aufgeführt. Sie fand Elisa altmodisch, nostalgisch, vernagelt, verbohrt und kleinmütig. Sie
hat sich geschämt und bei Henriette ausgeheult. Ausgerechnet Henriette, denkt Juli und muss nun doch grinsen. Die noch viel
kleinmütiger und ängstlicher war und sich gar nicht erst traute, allein mit der S-Bahn über die unsichtbare Grenze der Stadt
zu fahren. Aber sie hatte verstanden, worum es Juli ging. Ums Prinzip. Sie sollten aufhören, in der Vergangenheit zu leben.
Mehr wollte sie nicht.
Juli steht auf und nimmt sich Apfelsaft aus dem Kühlschrank.Der Hebamme, die genauso alt ist, wie ihre Mutter sein könnte, wenn sie noch lebte, sieht sie alles nach. Die redet genauso
von drüben und hüben. Macht fast alle Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten an den alten Grenzen fest. Kann über werdende Westmütter
herziehen, als verkörperten die alle Unterschiede. Da ist keine unter dreißig, Juli, hat sie letztens beim Abendessen gesagt.
Die planen ihre Kinder in einer Art und Weise durch, wie wir das nicht mehr lernen. Und dann wollen sie eine ganz natürliche
Geburt. Zurück zur Natur. Ein Kinderzimmer voller Naturfasern und Holzspielzeug haben die schon, da sind sie gerade im fünften
Monat. Ernährungspläne für das Kind vom ersten Tag an, das Sportprogramm für die Rückbildung schon gebucht, Atemtechnik geübt,
eine Menge Bücher über Erziehung im Schrank, mit dem Vater des Kindes alles abgesprochen, auf eine Religion geeinigt. Und
dann kommt das Kind. Und ist ein Schreihals. Habe ich alles schon erlebt. Dann verstehen die die Welt nicht mehr. Wieso kann
das Kind die Nächte durchschreien, wo sie doch alles richtig machen. Ja, sage ich dann, aber woher soll denn das Kind wissen,
dass Sie alles richtig geplant und vorbereitet haben.
Juli hat gelacht und sich amüsiert über das Geschimpfe der Hebamme. Die hatte so eine Art, Waldorfmutter zu sagen, dass man
wirklich nur noch lachen konnte.
Bei ihrer Mutter war Juli nicht so nachsichtig. Der hatte sie es nicht verzeihen können, wenn die mit ihren Vorurteilen oder
Urteilen kam, über die Westkollegen im Institut redete, als seien die die Ursache allen Übels. Dabei hatte Elisa, zumindest
eine Zeitlang, allen Grund, sauer zu sein. Sie hatten ihr Jungspunde vor die Nase gesetzt und gesagt, das sind jetzt deine
Chefs. Juli erinnert sich, wie Elisa eines Abends nach Hause kam und sagte, sie habe einem dieser Jungspunde eine runtergehauen.Und nun sei es wohl vorbei mit dem Job, das werde man ihr nicht durchgehen lassen. Der hat mich gefragt, ob ich für die Stasi
gearbeitet habe. Und ich hab nein gesagt. Und dann sagt das Arschloch: Da sei ich dann wohl eine ganz große Ausnahme. Wo wir
doch alle für die Stasi gearbeitet hätten. Zumindest alle, die studiert haben. Und dann hab ich ihm eine geknallt und bin
rausgegangen.
Juli fand das damals unglaublich. Dass ihre Mutter sich traute, dem Vorgesetzten eine runterzuhauen. Sie hat eine Flasche
Sekt gekauft und mit Elisa darauf angestoßen. Passiert ist nichts. Keine Entlassung, keine Abmahnung, nichts. Am Anfang hat
sich Juli noch oft erkundigt, ob Elisas Chef sich irgendwelche Schikanen ausgedacht hätte. Irgendwann hat sie dann nicht mehr
gefragt. Er schien völlig wirkungslos verpufft zu sein, der Aufstand Elisas. Totgelaufen, hat Juli damals gedacht. Der lässt
sie einfach totlaufen, da muss er sich dann nicht mal anstrengen.
Als die Hebamme abends nach Hause kommt, fragt Juli, ob sie Svenja am nächsten Tag ein paar Stunden bei ihr lassen könne.
Natürlich, sagt die Hebamme und fragt nicht nach. Juli erklärt sich trotzdem: Ich will mal schauen, wo der Vater von Svenja
wohnt. Also, ich weiß es eigentlich, aber ich will hinfahren und dann erst überlegen, ob ich ihm von Svenja erzählen will.
Der Mann der Hebamme nickt und ist skeptisch. Woran willst du das denn festmachen, Juli, fragt er. Ob er es erfahren darf
oder nicht?
Juli weiß, dass der Mann der Hebamme nicht gut findet, was die Frauen manchmal mit den Vätern ihrer Kinder machen. Aber jetzt,
wo es sie selbst betrifft, kann sie die Frauen verstehen. Ein bisschen. Sie werden zu Glucken. Zu ängstlichen, besitzergreifenden
Glucken. Väter kommen da erst an zweiter Stelle.
Juli steigt am nächsten Tag um eins in die S-Bahn. Obwohl sie dreimal im Stadtplan nachgeschaut hat, verläuft sie sich gründlich.
Sie fragt eine Frau nach dem
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