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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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den Kopf – sie lag in Ottos kleinem Holzbett, wo sie ihre langen Beine bis zur Brust anziehen musste – und sah auf den Kaninchenwecker, der um sieben Uhr früh seine langen Ohren ausfahren würde. Das Display zeigte 2 : 40  Uhr.
    Dann setzte sie sich auf. »Jez?«, rief sie leise ins dunkle Haus.
    Nichts.
    Langsam schob sie sich Stück um Stück von Otto weg, bis sie aus seinem warmen Bettchen steigen konnte. Sie zog ihre Strickjacke über dem Schlafanzug zusammen und schlich lautlos die Treppe hinunter in die Diele, wo eine letzte Lampe Wache hielt, bis Jez nach Hause käme. Keine Spur von ihm. Seine Schuhe und sein Mantel waren nicht da. Er war an diesem Freitagabend immer noch mit Don Berry unterwegs. Sein dritter Abend in der Stadt, seit er am Montag von Vancouver zurückgekehrt war.
    Sie tappte wieder hinauf und setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Hier konnte sie bis zur Decke im zweiten Stock hinaufsehen und hinunter bis zum Dielenboden, hier weitete sich der Raum wie nirgendwo sonst im Haus. Gott, wie sie sich nach Weite sehnte.
    Sie schloss die Augen und ließ Bilder ihrer Heimat aufsteigen. Wie sie von ihrem Dorf aufs Tafelgebirge hinaufwanderte, durch verstreute Weißbirken und Wacholderbüsche, die hier und da wie Borsten aus der Ebene ragten, oben der tiefblaue Himmel, über den in halsbrecherischer Hast schneeweiße Wolken jagten. Wie sie an einem Felsen lagerte und das Wild vorbeiziehen sah – das Knirschen der Hufe auf dem Eis das einzige Geräusch weit und breit, von den wenigen Flugzeugen abgesehen, die im dreißig Kilometer entfernten Denver landeten. Wenn Suzy sich ein wenig Mühe gab, konnte sie sogar das sanfte Abendlicht heraufbeschwören, das ihre Haut in Goldstaub badete, bevor es in gewaltigen, vom Violetten ins Purpurrote spielenden Schlieren verdämmerte. Und die Sterne erst. Millionen und Abermillionen funkelnder Sterne – nicht die gelegentliche trübe Funzel am schmutzigen Nachthimmel, der über London lag wie ein schlecht schließender Deckel.
    Vor Heimweh krampfte sich Suzy der Magen zusammen. Jez konnte Colorado doch nicht einfach vergessen haben. Er konnte doch nicht vergessen haben, wer sie war – oder doch?
    Ein neues Bild schob sich vor die anderen. Wie Jez an einem Freitag bei ihr in der Arbeit erschienen war und sie lächelnd zu sich an die Tür gewinkt hatte. In seiner Hand baumelte ein Schlüssel.
    »Bob hat mir fürs Wochenende seine Hütte überlassen«, raunte er mit dieser tiefen englischen Stimme, bei der es sie von oben bis unten überrieselte. Er zog die Augenbrauen hoch und ließ den Arm auf ihrem Rücken nach unten gleiten.
    »Cool«, sagte sie lächelnd und spürte den sanften Liebkosungen seiner Finger nach, schon jetzt verrückt nach mehr.
    An diesem Wochenende hatte sie ihn zu einem ersten kleinen Trekking mit in die Wildnis genommen. Sie kletterten in eine Schlucht hinab, die das Wasser in Jahrmillionen durch turmhohen Fels gesägt hatte, und wanderten stundenlang am sonnenglitzernden Fluss entlang, bis sie einen ihrer Lieblingsseen erreichten. Und da außer ihnen kein Mensch dort war, breiteten sie eine Decke am Ufer aus und schwammen nackt in den See hinaus. Sie schlang die Arme um seinen Hals und kostete seine Nähe aus. Sie wusste, dass er ohne sie nicht zurückfinden würde, und dieses Wissen gab ihr einen Kick. Jez gehörte ganz ihr.
    »Gefällt’s dir hier?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete er lächelnd, und seine Hand streifte über ihren Po und ihre Schenkel, über ihre Haut, die sich im eisigen Wasser um ihren Körper spannte.
    »Es gibt viele solche Orte. Wo niemand hinkommt. Die kann ich dir zeigen.«
    »Hast du keine Angst?«, fragte er. »Ganz allein hier draußen?«
    »Angst wovor?«
    »Keine Ahnung«, sagte er. »Vor Bären?«
    »Bären sind nicht schlimm«, antwortete sie. »Du schmeißt einfach mit Steinen. Du schreist. Ruderst mit den Armen.«
    Sie erinnerte sich an sein Lachen. »Du bist ein interessantes Mädchen«, sagte er und zog sie an sich.
    Als sie am späten Nachmittag zur Hütte zurückkehrten, entdeckten sie dahinter einen Whirlpool.
    »Weißt du, was? Das ist vielleicht der schönste Tag in meinem Leben«, murmelte sie ihm betrunken ins Ohr, als sie nackt, die Beine ineinanderverschlungen, zwischen Dampfschwaden im Wasser saßen und Bier tranken.
    »Hmm«, brummte er und schnupperte ihren Hals entlang. Sie wartete darauf, dass er sagte, für ihn sei es genauso.
    Aber das hatte er nicht gesagt. Und wenn sie der

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