Allein die Angst
Dreimal bin ich in den Laden zurückgekehrt, bis ich den Mut aufbrachte, es zu kaufen. Die Silberpailletten wirken wie Tausende winziger, auf den Stoff aufgenähter Glühbirnchen. Ich schlüpfe vorsichtig hinein, um mein Make-up nicht zu ruinieren, und genieße den fabrikneuen Chemiegeruch und das Gefühl des Stoffs auf der Haut, ein Stoff, der mich im Gegensatz zu meinen alten, ausgeleierten T-Shirts straff umhüllt.
Rae tritt ein paar Schritte zurück und starrt mich an.
»Was ist?«, frage ich.
»Weiß ich nich«, antwortet sie verschüchtert.
»Na, was denn?«, bohre ich etwas energischer nach.
Sie zuckt mit den Achseln, kommt auf mich zu, lässt sich gegen mich plumpsen und legt meinen Arm um ihre Schultern.
Ich schaue in den Spiegel und sehe, warum sie so still geworden ist. Ich bin völlig verändert.
Ich bekomme einen Schreck, als ich diese Frau erkenne. So sah ich aus, bevor Rae zur Welt kam. Heftig blinzelnd linse ich durch die dick aufgetragene Wimperntusche.
»Du leuchtest total«, platzt Rae schließlich heraus.
»Hm«, brumme ich. Es ist mir gar nicht recht, dass Rae mich so sieht. Ich merke, was sie denkt. Dass diese Frau im Spiegel mich ihr wegnimmt.
»Alles wird gut«, sage ich schließlich, als sie auf die Zehenspitzen steigt und sich stumm an meinen Hals hängt. »Hannah wird auch im Hort sein, und ihr werdet viel Spaß miteinander haben, und weil ich arbeite, werden wir mehr Geld haben und können zusammen schöne Sachen machen, zum Beispiel in Urlaub fahren. Vielleicht.«
»Kann ich eine Party feiern, wenn wir Geld haben?«, murmelt sie mir ins Ohr, »eine große für die ganze Klasse?«
»Hm …« Ich schweige eine Weile. Rae ist dieses Jahr nur auf zwei Partys gewesen, beides Klassenpartys. Eltern, die reich genug waren, um es sich leisten zu können, oder die niemanden ausschließen wollten, hatten alle dreißig Kinder eingeladen. Der Gedanke, dass Rae die ganze Klasse zu ihrer Party einlädt und dann feststellen muss, dass niemand außer Henry und vielleicht Hannah kommen will, ist zu schmerzhaft, um ihn weiterzuverfolgen. »Wir sehen mal, wie wir zurechtkommen. Ist aber eine nette Idee von dir. Hoffentlich merken deine Freunde, was für ein Glück sie haben, dass ein so freundliches Mädchen in ihre Klasse geht.«
Ich gehe mit ihr in die Küche, um uns etwas zu trinken einzugießen, dann lasse ich sie eine DVD gucken. Währenddessen kehre ich in mein Zimmer zurück und betrachte mich noch einmal.
Ich kann mich von meinem Spiegelbild nicht losreißen. Wenn ich die matte, erschöpfte Frau in dunklen Klamotten, die ich heute Vormittag gewesen bin, von dieser glanzvollen, geschminkten Frau abziehe, stehe ich mit fünf Jahren im Minus da. Das ist die Differenz: fünf Jahre Rundumverlust.
Über mir höre ich die leisen Schritte der Somalierin.
Ohne rechten Schwung nehme ich mir noch einmal mein Adressbuch vor, blättere die Seiten durch und versuche mich zu erinnern. War es vor Rae nicht einfach mit der Freundschaft? Sie entwickelte sich mühelos und gleichzeitig mit Tiefgang, aus einem gemeinsamen Gelächter in der Schule, aus einem langen Gespräch im Pub nach einem Seminar an der Uni, oder aus hektischer Zusammenarbeit im Studio bis spät in die Nacht.
Jetzt gibt es in meinem Leben einfach keine Freundschaft mehr. Nirgendwo. Außer Suzy.
Vergangene Woche habe ich viel über Suzy nachgedacht.
Manchmal wache ich mitten in der Nacht mit Schuldgefühlen auf. Vor allem wegen Suzy. Denn nach den ersten aufgeregten, intensiven Wochen unserer Bekanntschaft wurde mir etwas bewusst, was ich niemandem eingestanden habe: Außer Babys und Kindern haben wir nichts gemeinsam. Ein flüchtiger Blick auf die CD -Regale der anderen, und über Musik wurde nie gesprochen. Wir können uns nicht über Bücher austauschen. Suzy hat keine, außer ein paar Londonführer und Babybücher. Auch vor der weiten, offenen Landschaft, in der wir beide aufgewachsen sind und nach der sie sich immer noch so sehnt, bin ich eher davongelaufen, als ich nach London zog. Deshalb reden wir über mich und meine Probleme. Und wir reden über den neuesten Wohnungsschnickschnack, den sie sich gekauft hat, oder über ihr neues Auto. Und wir reden über die Schule und die Schaukeln im Park, über Fischstäbchen und Menstruationsbeschwerden, und machen Witze über
Matt den heißen Typen, den Callie sich krallen muss
, was nie geschehen wird, weil sich Matt nur einen einzigen Abend mit mir zu unterhalten bräuchte, um zu
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