Allein die Angst
Schweigen.
Und dann klatscht Guy.
»Super Arbeit, Cal«, sagt er lachend und dreht sich um. »Was hab ich euch gesagt? Das isses, Jungs, so müsst ihr’s machen!«
Ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Mund, er zieht sich von selbst in die Breite, zu einem spontanen, überglücklichen Lächeln.
»Danke. Guy, ist es in Ordnung, wenn ich jetzt verschwinde? Weil ich Rae holen muss?«
»Klar.« Guy lächelt, legt mir einen Moment lang die Hand auf die Schulter und steht auf. »Gut gemacht, Cal. Vergiss nicht, dass morgen um zehn Loll Parker vorbeikommt. Er freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.«
17 : 49 Uhr. Noch eine Station bis Alexandra Park. Ich habe mich umsonst über ausbleibende Signalstörungen gefreut. Dafür hat mich etwas anderes kalt erwischt: die gute alte Notbremsung.
Der Fahrer informiert uns vergnügt, der Zug vor uns sei zu einem Nothalt gezwungen worden und wir müssten hier warten, bis eine ältere Dame in bedenklichem Gesundheitszustand abtransportiert sei. Ich habe noch elf Minuten, um Rae abzuholen. Ich sitze wie auf Kohlen, so weit vorn auf der Kante, dass ich wahrscheinlich beim nächsten Ruck abrutsche. Die Frau gegenüber fängt meinen Blick auf und verzieht bedauernd das Gesicht. Überrascht nicke ich ihr zu.
Mein Handy hat keinen Empfang. Was passiert, wenn ich um sechs nicht da bin?
Zum Glück wird die ältere Dame rasch versorgt. Ich stehe auf und halte mich den Rest der Fahrt an einer Stange fest, zwänge mich durch die Türen, sobald sie einen Spalt auseinanderweichen, und springe in einem hastigen, völlig undamenhaften Galopp die steile Treppe zum Gehweg hinunter.
Wieder ein Blick auf die Uhr: eine Minute vor sechs. Ich werde es nicht schaffen. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Ich renne die steile Hauptstraße zur Schule hoch und muss aufpassen, dass ich in meinen Sandalen nicht ausrutsche. Eine Frau mit Stöckelschuhen und engem Kostüm jagt vor mir die Straße hoch, genauso gestresst wie ich. Sie presst ihr Handy ans Ohr und schreit: »Es liegt auf meinem Schreibtisch, Ian, mach halt die Augen auf!«
Um 18 : 04 Uhr kann ich kaum noch atmen. Meine Lungen brennen. Ich biege nach links ab, wo die Straße ein letztes Mal ansteigt, und die Schule liegt vor mir. Ich rase am Schulgebäude vorbei, durch das Eisentor des viktorianischen roten Ziegelbaus nebenan, einst ein Schwimmbad. Die Frau vor mir treibt eindeutig mehr Sport als ich; sie ist schon angekommen und drückt auf den Knopf der Sprechanlage bei der großen Holztür. Ich kann mich gerade noch mit durchquetschen, bevor die Tür wieder ins Schloss fällt.
Ein warmer, hefiger Geruch schlägt mir entgegen. Die große Halle mag jetzt leer sein, aber der wilde Trubel, den achtundzwanzig eben erst abgeholte Kinder entfesselt hatten, liegt noch spürbar in der Luft. Die Mutter vor mir hat bereits ein pampig dreinschauendes Kind gepackt und ist auf dem Weg nach draußen; sie schreit immer noch in ihr Handy: »Dann schau eben auf dem Drucker, vielleicht liegt es dort.« Ich gehe hastig zur Hortleiterin Ms. Buck, die schon die Tische abwischt, und mache ein möglichst zerknirschtes Gesicht.
»Es tut mir so leid … gleich am ersten Tag … Es gab einen Nothalt … Das wird nicht mehr passieren«, stottere ich.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagt sie, aber ihre Miene legt mir nahe, ich solle mir durchaus einige Gedanken machen. »Rae ist da drüben in der Malecke, bei Mrs. Ribell.«
Durch einen Bogen in der Ziegelmauer sehe ich Rae in einem Bereich, wo überall Kinderzeichnungen an den Wänden hängen. Eine Lehrerin kniet vor Rae und beschäftigt sich intensiv mit ihr.
»Hi, Rae«, rufe ich.
Rae sieht mich an, ohne zu lächeln. Sie sieht sogar ziemlich sauer aus. Mir wird ganz anders.
Die Lehrerin dreht sich um. Raes Blick macht mir so zu schaffen, dass ich die Frau nicht gleich erkenne.
»Oh, hi! Was machen Sie denn hier?«
»Ich arbeite hier«, antwortet sie lächelnd.
»Wirklich? Na so ein Zufall«, sage ich. »Das ist ja prima. Rae wird sich freuen. Ich hoffe, sie war brav?«
»Sehr. Wir hatten einen schönen Nachmittag miteinander, nicht wahr, Rae?«
Rae blickt zum Boden.
»Ich will heim«, nölt sie und läuft von mir weg zur Tür.
»Tut mir leid«, sage ich.
»Tschüs!«, ruft die Lehrerin ihr nach. Aber Rae ist schon durch die Holztür geschlüpft, deshalb winke ich für sie.
»Na, wie war’s?«, frage ich, als ich sie draußen einhole. Wir treten zusammen aus dem
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