Allein die Angst
auf den Hort richtig zu freuen. Was ist, wenn sie nicht mehr hin will? Nach dem Tag heute im Studio mag ich an eine solche Möglichkeit gar nicht denken.
Als Guy mich am Vormittag verließ, ging sofort alles schief. Ich drückte drei Knöpfe, und eine halbe Stunde Arbeit war verloren.
»Tut mir leid, es ist alles einfach weg.« Ich deute auf den schwarzen Bildschirm, als Guy wieder hereinkommt.
»Hast du die Hintergrundspeicherung nicht aktiviert?«, murmelt er.
Ich stöhne innerlich. Anfängerfehler. Todsicher fragt er sich, was er sich dabei gedacht hat, als er mich zurückholte. Soll ich ihm anbieten, die verlorene halbe Stunde nicht in Rechnung zu stellen?
Bis Mittag kehrt jedoch einiges von dem alten Selbstvertrauen in meine Finger zurück. Meine Aufgabe besteht darin, den Ton für einen TV -Werbespot zu machen. Geworben wird für eine neue Kochkurs- DVD , mit deren Hilfe angehende Köche das Filetieren, Hacken, Enthäuten und so weiter garantiert erlernen sollen. Der Film auf dem Plasmabildschirm über meinem Pult zeigt einen Koch, der in seiner Küche gekonnt mit zehn verschiedenen scharfen Messern jongliert und mit jedem nach einer anderen Zutat wirft.
Ich beiße mir vor Konzentration auf die Lippe, öffne das riesige Soundarchiv in der upgedateten Software und wähle für jede Zutat fünf bis sechs Geräusche aus, die ich zu einem Sound zusammenmische – das Filetiermesser zerteilt die Tomate mit einem sanften Schmatzen, das Brotmesser landet dumpf im Käse.
Zu meiner Überraschung ist es gar nicht so schwer. Keine Ahnung, warum, aber meine Ohren wissen einfach instinktiv, welche Geräusche gemixt werden müssen, wie manche Menschen auch ohne Kochbuch wissen, welche Kräuter und Gewürze zu einem Gericht passen.
»Empfindsame Ohren hat man, oder man hat sie nicht«, sagte mir Guy, als ich mit dreiundzwanzig als Studioassistentin bei Rocket anfing. »Ich wette, du hast schon als Baby Musik geliebt.« Mir blieb bei dieser Bemerkung die Spucke weg. Erst letztes Wochenende hatte ich meinen Vater besucht und ein Foto von mir als Kleinkind gefunden, auf dem ich unter altmodischen Kopfhörern hervorgrinse. Mum hatte daruntergeschrieben: »Callie kann nicht aufhören zu tanzen!!«
Immer wieder nehme ich mir vor, gleich Mittagessen zu gehen, aber bevor ich mich umsehe, ist es vier Uhr. Stand da nicht an der Rezeption ein Körbchen mit Muffins für die Kunden? Ich laufe hinaus, und Megan blickt hoch.
»Darf ich mir zwei nehmen?«, frage ich unsicher.
»Aber klar doch!« Sie lacht.
Eins behalte ich in der Hand, um es gleich zu essen, das andere stecke ich für Rae in die Handtasche. Dann heftet sich mein Blick wieder auf den Bildschirm, und ich tauche in meine Arbeit ab. Komisch, ich bin gar nicht richtig hungrig.
17 : 31 Uhr. Ha! Heute Abend habe ich Glück: keine Signalstörung auf der Victoria Line. Ich schlängle mich durch die vielen Menschen auf der Rolltreppe zu dem Bahnsteig hinunter, wo die Züge in Richtung Norden abfahren, und kann mich gerade noch zwischen halb geschlossene Türen quetschen. Schon beim Hineinspringen weiß ich, dass drinnen nicht genug Platz ist, und verfluche mich innerlich, als ich acht Stationen lang mit seitlich gebeugtem Kopf dastehen muss, in Dauersorge um Rae. Die Gruppe französischer Studenten, die mich umringen und alle gleichzeitig aufeinander einreden, macht die Fahrt auch nicht angenehmer. Für meine frisch geschärften Ohren hört sich das an wie drei gleichzeitig laufende Fernsehprogramme.
An King’s Cross leert sich der Wagen halb, und ich ergattere einen schmuddeligen Sitz mit kariertem Plastikbezug. Im dunklen Tunnel spiegelt sich mein Gesicht im Fenster. Ich bin ganz rot. Meine Haut fühlt sich wund an, wie leicht verbrannt von den vielen künstlichen Wandlampen im Studio, der Strahlung der zahllosen Computer. Es ist, als wären mir alle abgestorbenen Zellen abgeschmirgelt worden, als flösse mein Blut nun dichter unter der Haut.
Jedes Mal, wenn der Zug nach einem Halt wieder anfährt, merke ich, dass ich vorn auf der Sitzkante klemme, ohne mich anzulehnen. Ich bin vor Energie ganz verkrampft, wie auf dem Sprung, habe den einen Job hinter mir, den anderen vor mir: Ich muss Rae abholen.
Zwei Berufe, denke ich. Sound-Designerin und Mutter. Beide klar definiert. Beide mit ihren Tücken.
Und dann schlägt die Erschöpfung zu. Während der Zug durch den dunklen Tunnel rattert, versiegt auf einen Schlag das Adrenalin, das mich durch den Tag
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