Allein die Angst
Wie konnte ich nur so blöd sein? Vergessen, dass man bei jeder Fahrt durch London mindestens fünfzehn Minuten Puffer einrechnen muss, wegen unerwarteter Signalstörungen und Verkehrsstaus. Besonders, erkenne ich nun viel zu spät, wenn Kinder im Spiel sind.
Ich renne weiter, noch schwindlig von allem, was in der Arbeit passiert ist.
Meine Anfangsangst erwies sich als durchaus begründet. Das stellte sich heraus, sobald ich heute früh das neu gestylte Studio betrat und den weißen Marmorboden sah, die Empfangstheke, herausgemeißelt aus Mondfels oder was sich der Innenarchitekt darunter vorstellte, und die schalldichten Räume, sämtlich ausgestattet mit einem Fünfzig-Mille-Mischpult.
Das war keine Spielerei. Hier konnte ich nicht unverbindlich wieder »reinschnuppern«, nur mal so.
Ich bin in die Welt der Wirklichkeit zurückgekehrt, in der man für seine Arbeit bezahlt und, wenn man sie nicht gut macht, gefeuert wird.
»Callie«, ruft mir Guy entgegen und kommt mit einem Lächeln und weit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Seit dem letzten Mal hat die Spannung seiner dichten Locken etwas nachgelassen und ihr früheres Schwarz ist angegraut; so kommen seine tiefliegenden braunen Augen erst richtig zur Geltung. In seiner Jeans und dem hautengen schwarzen Pulli sieht er aus wie ein älteres, verlebtes Calvin-Klein-Model. »Toll, dass du da bist. Na, was ist das für ein Gefühl?«
Ein absolut grauenhaftes.
»Genial!«, antworte ich breit lächelnd und nicke Megan zu, der neuen Empfangssekretärin, die gut die ältere, sinnliche Schwester von Alice im Wunderland sein könnte: hübsches weißes Chiffonkleid, lange braune Beine und blaues Band im Haar. Befangen ziehe ich die kurzen Ärmel meines Silberkleids nach unten; ich habe nun das Gefühl, mein Outfit ist einen Tick zu bemüht.
Guy kommt sofort zur Sache: »Ich führe dir jetzt die neuen Funktionen unserer Software vor, dann habe ich einen Werbeclip für dich, an dem du sie gleich ausprobieren kannst. Megan zeigt dir die neue Küche.«
»Ah, ja«, sage ich, nehme meine Handtasche und folge ihm. »Alles klar.«
Was habe ich erwartet? Einen langen Plausch beim Kaffee etwa? Ich hätte mich gern entschuldigt, dass ich bei unserer letzten Begegnung so am Ende war und ihm was vorgeheult habe. Hätte ihm auch gern für die neue Chance gedankt. Ihn gefragt, wie es ihm mit Ankya geht, der langbeinigen polnischen Modefotografin. Aber nein. Die Stoppuhr läuft schon wieder, erkenne ich leicht bestürzt. Jede Minute, die ich hier bin, verdiene ich Geld. Während ich Guy begrüßt, mit ihm meinen künftigen Arbeitsraum betreten und mich in einen satellitenförmigen Kundensessel niedergelassen habe, habe ich vermutlich schon so viel verdient, dass ich mir ein Sandwich zum Mittagessen kaufen kann.
Die Verantwortung lastet schwer auf meinen paillettenfunkelnden Schultern.
17 : 27 Uhr. Oxford Circus ist schon in Sicht, und ich zwinge meine widerstrebenden Beine, auch noch die letzten Meter bis zur U-Bahn rennend zurückzulegen, als mein Handy klingelt.
»Ja«, keuche ich. Das ist ja lächerlich, ich muss unbedingt was für meine Kondition tun.
»Cal?«
Suzys Stimme klingt in dieser turbulenten, chaotischen Straße so fehl am Platz, dass ich sie im ersten Moment gar nicht erkenne.
»Ach, du bist’s, hi.« Ich stecke mir einen Finger ins andere Ohr, um besser zu hören. »Alles okay?«
»Hm …«, beginnt sie zögernd.
Mir sacken die Mundwinkel nach unten.
»Was ist?«
»Keine Sorge, Honey. Es geht ihr gut – ich meine, krank ist sie nicht. Aber ich dachte, ich sag’s dir lieber: Als ich heute um halb vier Henry abgeholt habe, hat sie sich ziemlich aufgeregt, weil sie in den Hort muss.«
»Wirklich? Was meinst du mit ›aufgeregt‹?«
Taxis flitzen in schwarz-gelben Reihen vorüber. Zwei Teenies mit Topshop-Tüten rempeln an mir vorbei, kreischend vor Gelächter. Eine der Tüten klatscht mir ans Bein, ich höre Suzy kaum.
»Na ja, sie hat geweint. Sie wollte mit mir und Henry nach Hause. Ich habe sie umarmt und gesagt, ihre Mummy möchte nun mal, dass sie in den Hort geht, und dass du sie abholst, sobald du kannst. Sicher hat sie sich wieder beruhigt, als sie dann dort war, aber ich dachte, ich warn dich lieber vor, Honey.«
»Gut, danke, aber ich bin spät dran«, rufe ich in den Hörer. »Ich muss jetzt zur U-Bahn, ich schau später bei dir rein.«
Ich renne die Treppe hinunter. Auf diese Idee war ich gar nicht gekommen. Rae schien sich
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