Allein in der Wildnis
sahen alle gleich aus, gleich alt, gleich hoch. Nicht lange, und wir waren außer Atem und der Verzweiflung nahe.
»Das ist doch sinnlos«, keuchte ich, immer noch gegen die Versuchung kämpfend, panisch draufloszulaufen. »Wir gehen jetzt schnurgeradeaus. Du bleibst hier und dirigierst mich mit dem Kompaß, bis du mich fast nicht mehr sehen kannst. Dann markiere ich einen Baum und warte, bis du nachkommst.«
Das probierten wir, und allmählich arbeiteten wir uns in offeneren Laubwald hinein.
»Horch! Wasser!« rief Betsy.
Wir liefen dem Geräusch nach und fanden einen kleinen klaren Bach. Die Packen abwerfend, tranken wir tief. Als ich mich aufrichtete, fiel mein Blick auf ein leuchtendrotes Papierstückchen. Verwundert hob ich es auf. Es war die Verpackung eines Schoko-Riegels.
»Ist das vielleicht...«, begann ich.
Betsy unterbrach, heilfroh und erleichtert: »Ja, sicher, da sind unsere Fußspuren. Meine Stiefel! Nun wissen wir wieder, wo wir sind. Oder jedenfalls, wo wir gewesen sind.«
Am Spätnachmittag erreichten wir das rote Kanu und kurz vor der Dunkelheit das Hotel. Wir paddelten wie die Wilden, denn wir wußten, daß wir unsere Abendarbeit versäumt hatten. Das Paddeln half den großen Adrenalinschwall abarbeiten, der sich durch die Angst in unseren Körper ergossen hatte. Nur ein paar Stunden hatte unsere Orientierungslosigkeit gedauert, aber sie hatte uns nachhaltig gebeutelt. Jetzt konnte ich nachfühlen, was ich von Verirrten im Wald gelesen hatte: ihre Panik, ihre Angst, ihr irrationales Handeln.
»Wir sagen niemandem, daß wir uns verlaufen haben«, flüsterte Betsy, als wir das Kanu entluden.
»Aber sie werden wissen wollen, warum wir zu spät kommen, wie’s am Terror Lake aussieht und was wir da gemacht haben. Wir wären doch die ersten gewesen, die da seit Jahren hingekommen sind.«
»Ja, und jetzt wissen wir auch, warum’s kein anderer geschafft hat«, lachte Betsy.
Das Problem, was wir erzählen sollten, löste sich von selbst, als Morgan Brown uns sah.
»Ihr kommt zu spät!« polterte er. »Wir haben ein volles Haus, im Restaurant schaffen sie’s hinten und vorn nicht. Betsy, du schaust, ob du der Kellnerin beim Abräumen helfen kannst«, befahl er. »Und du, Anne, gehst mir beim Geschirr zur Hand.« Er knallte den Deckel der Spülmaschine zu und gab mir einen Schaber. Eine Stunde lang leerten, stapelten und wuschen wir Geschirr. Als die letzten Teller ins Regal hinter den Herd wanderten, zwinkerte mir Morgan zu und fragte: »Wie war’s denn, Daniel Boone?«
Ich machte eine Pause, ehe ich antwortete. Die Küche war leer. Meine immer noch feuchten Stiefel scheuerten schmerzhaft an den wunden Zehen. An den Händen hatte ich vom Paddeln Blasen, die von den heißen Tellern doppelt weh taten. »Es war grauenhaft«, stotterte ich, von unserem Kampiererlebnis ebenso niedergeschlagen wie von Morgans Zorn. Tränen stiegen auf.
»Habt ihr euch verlaufen?« fragte er mitfühlend.
»Ja, ja, wir haben uns verlaufen! Wir sind überhaupt nicht zum Terror Lake gekommen.«
»Gut!« rief mein rätselhafter Boß. »Dann bist du jetzt keine Anfängerin mehr. Du bist auf dem Weg, eine richtige Waldfrau zu werden. Von nun an wirst du den Wald respektieren und nicht mehr so leichtsinnig sein. Du wirst deine Risiken kalkulieren. Und weißt du was? Du wirst am Kampieren mehr Spaß gewinnen als je zuvor.«
Er beugte sich vor und wischte mir eine Träne vom Augenlid. »Weißt du noch was?« fragte er leise. »Du hast mir gefehlt, und ich habe mir Sorgen gemacht.« Er nahm mich in eine tiefe Bärenumarmung, die die Erschöpfung, den Frust und den Schmerz wie durch ein Wunder auslöschte.
Wie recht Morgan hatte. Das Kampieren ist zu einer meiner liebsten Beschäftigungen geworden. Heiße Freude erfüllt mich, wenn ich mir meinen Rucksack aufschnalle oder ihn ins Kanu lege, und wenn’s losgeht in die Berge oder an die Seen. In meinen Augen ist das die schönste Verwirklichung freien Willens und persönlicher Unabhängigkeit, die schönste Entfaltung innerer Fähigkeiten und Reserven, die in unserer industrialisierten, verstädterten Zivilisation noch möglich ist. Gleichgültig, wie herrlich oder wie schlecht im Einzelfall die äußeren Umstände sind: Das Kampieren ist ein Erlebnis, das sich immer lohnt.
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Mein erster Winter
(Oder: Von einer, die auszog, das Fürchten zu verlernen)
Wenn im November die erste körnige Eishaut, noch von unsicherer Dicke, den Black Bear Lake von
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