Allein in der Wildnis
spürten. Verglichen mit meiner ersten Nacht im Freien neben dem Sumpf war hier alles totenstill. Nur eine einsame Grille zirpte hinter dem Stamm einer riesigen Kiefer.
Ich fröstelte wieder in meinem Leinenhemd. Morgan zog seine schwere Wolljacke aus und legte sie mir sanft über die Schulter. »Spielen Sie mir ein Lied, Anne?« fragte er und zog eine alte Gitarre aus seinem Packkorb.
»Woher wußten Sie, daß ich spielen kann?« fragte ich, immer noch unfähig, ihn beim Vornamen zu nennen.
»Ich hab’ Sie den ganzen Sommer beobachtet«, gestand er freimütig. »Wie gesagt, Sie fallen etwas aus dem Rahmen. Sind anders als die meisten, die kommen und in meinem Hotel arbeiten. Sie lieben wirklich die Natur, und es ist schön, diesen Zug bei einer Frau zu finden.«
Nervös schlug ich die Gitarre an und fragte mich, ob mein Erröten wohl im Feuerschein zu sehen war. Den ganzen Sommer über hatte ich Mr. Brown meinerseits beobachtet, gefesselt von seiner selbstverständlichen Kompetenz, seiner körperlichen Kraft, seinem Humor und seiner Charakterfestigkeit. Aber nie hätte ich mir träumen lassen, daß ich ihm unter dem Dutzend Mädchen, die bei uns arbeiteten, aufgefallen war. Die Zunge war mir gebunden. Unmöglich, jetzt zu singen.
Morgan muß meine Verwirrung bemerkt haben, denn er begann, die Arme um die Knie geschlungen und den Blick aufs Feuer geheftet, zu erzählen. Er erzählte von seinem ersten Kampierausflug als Junge, von Jagdtouren mit seinem Vater, als er in die Adirondacks kam, und vom Erwerb seines Hotels. Allmählich entspannte ich mich. Jetzt sah ich meinen Brotherrn als Menschen, als Mann mit einer großen Liebe zu diesen Bergen und zu der Unabhängigkeit im Lebensstil, den sie erlaubten.
Gegen Mitternacht erhob sich leichter Wind, und ein Funkengestöber stieg in den Nachthimmel. Ich blickte nach oben und merkte, daß der Himmel sich völlig bedeckt hatte. Draußen an der Landzunge begann leichter Wellenschlag.
»Zeit zum Schlafengehen«, sagte Morgan und legte mir den Arm um die Schulter. »Sie können es sich immer noch überlegen und ins Zelt kommen.«
Ich erhob mich steif und zitterte stärker als zuvor. Aber nun wußte ich, daß es nicht nur die Kälte und das Vorgefühl des Sturmes war, sondern das Bewußtsein tiefer Zuneigung für diesen Mann. Schüchtern schüttelte ich den Kopf, zog mir sein Jackett von den Schultern und reichte es ihm zurück. Er nahm es, und dann, zu meiner völligen Entgeisterung, streifte er mir mit den Lippen über die Stirn und flüsterte: »Schlaf gut, Daniel Boone.«
Keine Rede von gutem Schlaf. Gegen drei begann ein durchdringender Nieselregen durch die Kiefern zu sickern. Um vier war mein Schlafsack feucht, und ich bibberte vor Kälte. Ich kroch aus dem Sack und schleifte ihn steifbeinig zum Zelt hinüber. So geräuschlos wie möglich zog ich die Zelttür auf, um Morgan nicht zu wecken. Aber er setzte sich sofort auf und half mir den Schlafsack hineinzuziehen.
»Hab mir schon gedacht, daß du jetzt kommst«, lachte er vergnügt. »Armes Kind, zitterst wie Espenlaub.«
Ganz ruhig machte er seinen großen Daunenschlafsack auf; ganz sanft schob er mich hinein; ganz natürlich zog er mich in die warme Höhlung seines Körpers und deckte meine feuchte Kluft mit dem trockenen Schlafsack zu.
»So«, sagte er leise, »jetzt trocknest du schnell. Schlaf nur. Wie es sich jetzt einregnet, kann uns morgen eine lange, nasse Wanderung bevorstehen. Wir werden unsere Kraft nötig haben.«
Viel geschlafen hat keiner von uns, in dieser plötzlichen akuten Nähe des anderen, seines Körpers, Atems, Geruchs, seines Wesens. Schlaf vortäuschend, genoß ich die wilde Adirondack-Nacht, den pladdernden Regen auf dem Zelt, den Wind, der klagend durch die Kiefern fuhr, die fernen Wellen, die starken Arme um mich. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich bei irgend jemandem so geborgen und glücklich gefühlt. Allmählich legte sich mein Zittern. Beim ersten Morgengrauen schliefen wir fest.
Ein Ast, der in der Nähe aufkrachte, weckte uns. Schlagartig sahen wir unsere prekäre Lage. Ein rauher Herbststurm blies. Morgan prüfte den aufgewühlten Himmel und bezweifelte, daß Mike uns abholen konnte. Wir hatten so viel Gepäck mit, daß wir es zu Fuß auf keinen Fall mitnehmen konnten. Und ich mußte unbedingt zurück, denn morgen hatte ich an der Uni eine Prüfung. Wir hielten Kriegsrat und schlossen einen Kompromiß. Ich sollte auf einem Wanderweg zurücklaufen und, wenn ich auf
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