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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne LaBastille
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hauen und mich heraushangeln. Das andere Ende der Stange diente der Schallprüfung. Beim Gehen klopfte ich damit vor mir aufs Eis. Gutes Eis gibt ein festes, nachklingendes »Pang«, schlechtes Eis ein dumpfes »Bupf«, dünnes Eis ein hohes, kurzes »Tap«.
    In den ersten ein, zwei Wochen war ich mit der Eisgeherei äußerst vorsichtig. Einige meiner stärksten Einsamkeitserlebnisse am Black Bear Lake hatte ich an diesen blaugrauen, froststarren Dezemberabenden, wenn es schon um halb fünf dämmerte und aus tiefhängenden Wolken Schneeschauer stoben. Über graues Spiegeleis wanderte ich schwerbepackt mit meiner Stange heimwärts und fragte mich, ob mir wohl noch Zeit für einen zweiten Atemzug bliebe, wenn ich jetzt einbräche — oder jetzt — oder jetzt.
    Zu Weihnachten freilich hatte der Schnee schon den ganzen See bedeckt, und das Eis maß einen halben Meter. Nun kamen meine Bärentatzen-Schneeschuhe zum Zug. Jeder Gang mit den Schneeschuhen war anders und auf seine Weise schön. Auf der leeren weißen Riesenleinwand des Sees zog ich Muster wie ein Fingermaler. Manchmal sah ich zierliche, um die Inseln kurvende Fuchsspuren oder ein Gewirr von Hirschhufabdrücken um ein offenes Quelloch, die Rutschspur eines Otters an der Uferböschung oder das Nebeneinander von Falkenflügeln und Hasenpfoten nahe beim Ufer. Der Wind hatte rhythmische Schneewellen modelliert, dazwischen lagen spiegelnde Eisstreifen. Eine blutrot untergehende Sonne konnte immense blaue Schatten von Kiefernbäumen über den perlweißen Schnee werfen, während die gleißende Mittagssonne die Decke in ein riesiges blitzendes Diamantenfeld verwandelte.
    Meinen ersten Heiligabend verbrachte ich allein in der Hütte; eine Familie, zu der ich gehen konnte, hatte ich nicht, und zu wohlmeinenden Freunden oder Nachbarn wollte ich nicht. Auf meiner hinteren Veranda fiel das Thermometer auf minus zweiunddreißig Grad! Es war Vollmond. Ich trat in diese herrliche Nacht hinaus, angetan mit langen Unterhosen, drei Paar Wollsocken, zwei Paar Handschuhen, Turtleneck-Hemd, wollenem Islandpullover, schweren Holzfällerhosen und Jacke mit Kapuze. Ich schnallte mir die »Bärentatzen« unter und machte im Wald hinter der Hütte einen kurzen Spaziergang. Kleine Tannen waren zu Puderzuckerhügeln geworden, der Bach zum murmelnden Rinnsal unter Eis. Schneewehen waren ziseliert wie Hochzeitskuchen. In der schweren Kälte knirschte meine Montur, und meine Fingerspitzen kribbelten. Schneeschuhhasen schlummerten in dunklen Höhlen unter schneebeladenen Fichten. Die schwarzen Tannendickichte schienen Fabelwesen und sonderbare Schneegeschöpfe zu beherbergen. Birken und Buchen warfen parallele Schatten auf den blauweißen Schnee. Alle paar Minuten krachte es wie ein Gewehrschuß, wenn sich Baumholz in der strengen Kälte zusammenzog. Über dem kahlen Waldbaldachin funkelnde Sterne, aufgereiht an brüchigen Ästen. Eine magische Nacht — so richtig wie für Weihnachten geschaffen.
    Am nächsten Tag beschloß ich, essen zu gehen. Gegen Mittag verließ ich die Hütte. Das Thermometer stand auf minus dreißig Grad, und ein Nordwind blies mir mit dreißig Stundenkilometern in den Rücken. Das ergab einen Windauskühlfaktor von minus siebenundfünfzig Grad. Damals wußte ich noch nicht, daß man sich dadurch schwere Erfrierungen an freiliegenden Hautpartien einhandeln kann. Ich zog alle Kleidungsstücke von gestern abend an, dazu Schneebrille, Schal und gefütterte Gummistiefel. Auf Schneeschuhen machte ich mich auf den Weg über den See. Keiner meiner Sommernachbarn hatte sich übers Fest hierher gewagt; ich war allein am See. Auf halber Strecke hörten Zehen und Finger auf zu kribbeln und begannen gefühllos zu werden. Einen Augenblick innehaltend, zwang ich meine Arme aus den Jackenärmeln heraus und steckte die Hände unter die Achseln. Für meine Füße aber gab es keine Hilfe. Richtig schnell zu laufen, traute ich mich nicht, weil ich meine Lunge nicht unterkühlen wollte; also setzte ich mich mit mittelschnellem Trott wieder in Bewegung. Als ich drei Viertel des Weges zurückgelegt hatte, waren die Füße bis zu den Knöcheln empfindungslos, und meine Nase fühlte sich merkwürdig an. Unfaßbar, wie rasch mein Körper im Griff des Frostes erstarrte. Beim Erreichen des Parkplatzes spürte ich die Beine nur noch als zwei Klumpen, und die Finger waren kaum noch beweglich.
    Als ich den Schlüssel in das Schloß an der Autotür zu stecken versuchte, wurde mir schlagartig die

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