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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne LaBastille
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hätten, waren ein paar abgehärtete Einheimische und ein oder zwei enge Freundinnen meines Alters aus der Stadt. Wehmütig dachte ich daran, welch ungutes Licht dies auf unsere urbanisierte Lebensweise wirft, verglichen mit Pioniertagen, wo die Leute zu jeder Jahreszeit meilenweit gingen, nur um ein anderes Gesicht zu sehen.
    Heute kann ich Gäste im Winter fast ebensoleicht übers Eis befördern wie im Sommer mit dem Boot über das Wasser. Trotzdem muß man immer noch mit Wintertücken rechnen. Zu Silvester hatte ich einmal meinen guten Freund Frank, einen Stadtplaner, und seine neue Frau Debby eingeladen. Am 2. Januar mußten sie wieder in New York zurück sein. Frühmorgens am 31. Dezember setzte ein starker böiger Südwind ein. Schnee fegte übers Eis. Die Hügel um den Black Bear Lake färbten sich weißgrau wie der Bauchpelz eines Bibers. Wolken senkten sich herab, und das Thermometer stieg. Mittags waren es zehn Grad über Null, und es regnete heftig. Bis zum Nachmittag hatte der silvester-untypische Regenguß das Eis mit einer seichten Wasserschicht überzogen. Noch ein paar Zentimeter, und wir hätten paddeln können.
    Wenn das so weiterging — was laut Barometer zu befürchten war — , würde der See mit dem Schneemobil bald unpassierbar sein. Ich beschloß deshalb, mit der Beförderung ihres Gepäcks jetzt schon anzufangen. Koffer, Kisten und Aktentasche stapelten wir auf den Schlitten und koppelten ihn an die Rupp. Bei der spritzenden Fahrt über das Eis warfen wir eine richtige Bugwelle. Als wir die Lände erreichten, war alles durchweicht. Auf der Rückfahrt sackte die Maschine an mehreren matschigen Stellen gefährlich ab. Wir beschlossen, zu Fuß aus der Hütte wegzugehen und nicht mehr zu fahren. Ich bestand darauf, daß alle Schneeschuhe trugen, denn das See-Eis war bereits löchrig und aufgeweicht. Man ging wie auf Schwimmflossen, aber es war sicherer. Debby schaffte es fast nicht vor Erschöpfung. Als wir drüben bei den Autos ankamen, war es dunkel. Wir waren naß bis auf die Haut. Was sollten wir nun, regendurchweicht und ohne Dach über dem Kopf, am Silvesterabend tun?
    Frank überlegte stirnrunzelnd. »Du gehst auf keinen Fall zurück«, sagte er kategorisch. »Wir suchen uns jetzt ein Hotel oder irgendeine Absteige, nehmen uns Zimmer, trocknen uns und feiern.«
    Die einzige Unterkunft, die wir finden konnten, war ein kleines Hotel am Arrow Lake. Es war proppenvoll mit enttäuschten, aber gutgelaunten Schneemobilern. Wie durch ein Wunder hatte das Haus noch ein Zimmer frei — mit drei ungemachten Betten. Wir nahmen es.
    Bis wir die Betten gemacht, aufgeräumt, uns getrocknet und aufgewärmt hatten, war es fast Mitternacht. Unten jubelnde Silvesterstimmung. Wir waren zu erschöpft, um uns unter die Feiernden am großen steinernen Kamin zu mischen. Frank ging kurz hinunter und kam mit drei doppelten Brandys wieder. Auf dem Bett sitzend, tranken wir uns zu, während unter uns Hörner tröteten, Ballons zerplatzten, »Auld Lang Syne« gesungen wurde, eine Orgel spielte, Füße im Takt auf den Boden stampften und der Regen aufs Dach trommelte.
    An diesem Abend kam es mir gewiß nicht ungelegen, nicht in der Hütte zu sein. Franks Toast klingt mir noch in den Ohren: »Auf unsere Freundschaft — aber nächstes Jahr komm du bitte zu uns in die Stadt!«

9
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Die Eisschmelze

    Die Eisschmelze ist der Vorbote des Frühlings. Die Eisschmelze ist der Vorbote besserer Zeiten. Die Eisschmelze ist der Vorbote menschlicher Kontakte. Seen, Tümpel, Flüsse erwachen aus der Winterstarre — vom Eise befreit.
    Den eigentlichen Vorgang des Aufbrechens habe ich nie mit eigenen Augen gesehen. Und doch warte ich jedes Jahr darauf, erwarte einen großen Eis-Exodus. Erwarte rumpelndes, krachendes, kratzendes Schieben, sich bäumende Schollen auf dem See. Aber das geschieht selten. Meist ist es ein sanfter, unmerklicher Auflösungsprozeß, der nichts von der strengen Präzision des Zufrierens hat.
    Der aufregendste Moment tritt schon ein paar Tage früher ein, wenn ein Zweihundertvierzig-Liter-Faß, zu Testzwecken auf dem Eis aufgestellt, durchbricht. Viele Wetten sind schon auf dieses wichtige Ereignis abgeschlossen worden. Mein alter Freund Rob, ein »Adirondack Guide«, schätzte — weise wie er ist — , daß das Faß am 23. April um 8.30 Uhr früh durchbrechen würde (eine gute, solide Durchschnittsschätzung mit der optimalen Tageszeit). Jake, ein Pessimist, wettete auf 1. Mai mittags. Sally

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