Allein in der Wildnis
wählte den 30. April, 18 Uhr. Ich entschied mich optimistisch für den 15. April, 10.15 Uhr vormittags. Der Gewinner bekommt fünfundzwanzig Dollar vom örtlichen Angler- und Jäger-Club.
Ist das Faß einmal durchgefallen, geht es mit der Schmelze sehr schnell. Das abgewetzte Eis ist mürbe, schwammig, pockennarbig, mit Löchern, wo Schmelzwasser strudelnd in die Tiefe verschwindet, hinunter in das große Dunkel des Sees. Meine letzten paar Fußmärsche über den Black Bear Lake werden unternommen: vorsichtig und mit nassen Füßen. Risse an der Uferlinie zeigen offenes Wasser. Unter meinem Tritt scheint das Eis nachzugeben, durchzusacken. Das Netzgewebe der Schneeschuhe wird glitschig und schwer. Ich benutze wieder die Eisstange und klopfe vor mir den Weg ab. Eines Tages sagt mir dann die Intuition: Jetzt mußt du die Waldstrecke nehmen, bis die Schmelze vorbei ist. Ein paar Tage noch bedeckt trügerisches, immer dünner werdendes Schwarzeis den See. Eines Morgens dann das Wunder: blaues Wasser funkelt in der Sonne! Es ist der 25. April!
Ich grabe mein Boot aus einem Drittelmeter Schnee aus, schleppe den Außenbordmotor heran, schraube zwei neue Zündkerzen hinein und reiße an der Leine. Nach dreiundzwanzig Versuchen erwacht er spuckend zum Leben, bockig, weil er jetzt nach fünfmonatiger Ruhepause wieder arbeiten muß. Die erste Fahrt über den Black Bear Lake im April gleicht der letzten im November: das Wasser ist zäh, dickflüssig, das Wetter rauh und kalt. Aber die Tendenz ist jetzt umgekehrt, auch die Tendenz meiner Gefühle. Statt resigniert winterliche Düsternis, Vereisung, Isolation, kalte und verschneite kurze Tage zu erwarten, erfüllt mich nun Vorfreude auf Sonnenschein, grüne Bäume, Besucher, Bewegung, Farbe, lange Tage und singende Vögel.
Auch die Tierwelt, glaube ich, empfindet ähnlich. Biber, Otter und Bisamratten können jetzt plötzlich wieder frei über den See schwimmen, statt unter dem schweren Eisdach riskant von Luftloch zu Luftloch tauchen zu müssen. Wie eigentlich finden sie, in der Finsternis eines kalten Adirondack-Sees schwimmend, Dreiviertelmeter Eis und dreißig Zentimeter Schnee über sich, diese lebensrettenden Ausgänge? Und die Fische? Spüren auch sie Erleichterung, wenn sich das Wasser aufhellt, belebt, erwärmt?
Tauchervögel, Säger, Gänse und Enten ziehen. Wohl-bekannte Pärchen lassen sich nun bald wieder auf den Black Bear Lake und den Biberteich nieder, um hier den Sommer zu verbringen. Ich sehne mich nach dem schrillen Lachen eines Tauchervogels im Morgengrauen. Die Kanadagänse haben das offene Wasser gesehen und ziehen nordwärts, in der Gewißheit, daß sie abends einen Ruheplatz finden. Ihr jubilierendes Schreien weht auf die anschwellenden Bäche, Flüsse und Moore herab.
Überall in den Bergen, vom höchsten Gipfel bis zur tiefsten Sumpfniederung, regt sich Wasser. Milliarden Kubikmeter Wasser sind freigesetzt. Die ungeheuren Einzugsgebiete der Adirondacks entfesseln sich, der letzte Pflanzenschwamm entläßt seine Feuchtigkeit. Wasser gurgelt, rinnt, stürzt zu Tal. Kristallene Tropfen fallen von eisüberzogenen Felsbrocken oben am Mount Algonquin und Mount Marcy. Rinnsale glucksen an Südhängen unter dem Schnee hervor. Von jeder Bodenerhebung läuft Wasser zu seinem Neben- oder Hauptfluß — sei es zum Independence, Grass, Cold, Opalescent, Cedar, Ausable, Oswegatchie, Boquet, Raquette, Moose, Beaver, Otter, Sacandaga, West Canada, St. Regis, Schroon oder Boreas River — und von dort über den Sankt-Lorenz-Strom oder den Hudson ins Meer.
Unser Wasser ist unglaublich rein. Ich trinke bei uns in den Bergen aus praktisch jedem Bach und See, außer in unmittelbarer Nähe menschlicher Ansiedlungen oder stromabwärts von Ortschaften und vielbesuchten Seen. Das ist in unserem dichtbevölkerten, umweltverschmutzten Nordosten und auf der Atlantischen Küstenebene eine große Seltenheit. Oft stelle ich mir im Geist die Ostküste als Reliefkarte vor, auf der alle Gebiete, in denen es verschmutztes Wasser gibt, giftbraun eingetragen sind. Dann blieben als nichtbraune Flecken nur die Adirondacks (hauptsächlich über fünfhundert Meter), ein paar Spitzen der Catskill Mountains, Nordmaine und die höchsten Stellen der Green Mountains, White Mountains und der Appalachen übrig. Überall sonst leben die Menschen an verdreckten Gewässern und kennen das Privileg überhaupt nicht mehr, so zu trinken, wie von der Natur gewollt. Für ein paar Liter reines
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