Allein in der Wildnis
Quellwasser müssen sie bis zu einem Dollar zahlen!
Der Wasserreichtum der Adirondacks ermöglichte und begünstige den Bau des berühmten Erie-Kanals. Im frühen neunzehnten Jahrhundert galt das Kanalsystem des Staates New York als größte technische Bauleistung, die die USA aufzuweisen hatten. Kanäle, die Verkehrsschlagadern der damaligen Zeit, erschlossen die Wildnis des Nordteils von New York und erleichterten den Zugang zum Ohio- und Mississippi-Tal und den Großen Seen. Kanäle halfen Weizenanbau und Milchwirtschaft entwickeln und Märkte für Bodenschätze und Holz aufbauen. Besonders der Erie-, Black River- und Champlain-Kanal ermöglichten es, in den Adirondacks mehr Holz einzuschlagen und mehr Land zu besiedeln.
Dabei war das Wasser von vitaler Bedeutung. Es war das Lebensblut des Erie-Kanals. Sank der Wasserpegel, sanken auch die Verkehrs- und Wirtschaftsleistungen. Da die Adirondacks reich an Seen waren, ging man daran, dieses umfangreiche Reservoir anzuzapfen. Zwischen 1880 und 1888 wurde — allein mit Handarbeit und Pferdekraft — eine Reihe von Wasserzuführungskanälen, Dämmen und Staubecken angelegt, manche an fast unzugänglichen Punkten.
Noch viel grandiosere Pläne, die unter anderem die Umleitung des Wassers ganzer Einzugsgebiete vorsahen, wurden ausgearbeitet. So wollte man das zum Sankt-Lorenz-Strom abfließende Wasser in den Hudson umdirigieren, da die beiden Einzugsgebiete an der Wasserscheide beim Grassy Pond nur siebenhundert Meter auseinanderlagen! Die Techniker versprachen sich davon eine reiche Wasserversorgung für den Champlain- und Erie-Kanal. Zwar fand der Vorschlag viele Freunde und wurde staatlicherseits mehrmals geprüft, jedoch nie verwirklicht. Zum Glück. Denn ein so starker Eingriff in den Wasserhaushalt hätte schwere ökologische Schäden anrichten können.
Heute sind der alte Erie-Kanal und der alte Black River-Kanal weitgehend aufgegeben. Nur ein kurzes Stück zwischen Rome und Syracuse ist noch mit dem Kanu befahrbar. Statt dessen trägt der New York Thru-way unsere Personenwagen, Lastwagen und Busse, flankiert von Bahngleisen und dem modernen Binnenschifffahrtsweg. Früher sechs Wochen anstrengende Postkutschenfahrt, später zehn Tage mit dem Schiff über den Hudson River und Erie-Kanal, heute acht Stunden mit dem Auto — so hat sich die Reisezeit zwischen New York City und Buffalo verkürzt. Das Wasser der Adirondacks hat bei der Verkehrserschließung dieses Bundesstaates seine Rolle gespielt. Und doch kann ich mich, wenn ich am Ufer verlandeter Zuführungskanäle entlangstreife, einen rostigen Eisenbolzen aufhebe und verwittertes Mauerwerk berühre, des Gedankens nicht erwehren, daß Menschenwerk — wie ein Sommertag — nur allzu kurze Lebensdauer hat.
Vor dem Sommer, vor dem Frühling noch müssen wir eine Zeit durchmachen, die womöglich noch trostloser ist als das Novemberwetter. Vielleicht erscheint sie deshalb doppelt trist, weil ich so ungeduldig darauf warte, Blumen zu sehen, Vögel zu hören, Sonne zu spüren. Einer meiner Kollegen hat die Adirondacks im frühen April das »Sibirien Nordamerikas« genannt. Und Robert Louis Stevenson schrieb 1888, als er am Saranac Lake weilte: »Die Grauheit dieses Himmels hat etwas für die Seele zutiefst Empörendes.«
Tage ohne Sonne verstreichen. Kalter Regen hagelt aufs Dach. Die Schneedecke ist matschig und mit Schneeschuhen kaum mehr begehbar. Kurze, bösartige Schneestürme treten auf. Jeden Morgen beiße ich die Zähne zusammen, kämpfe gegen den Frust des langen Eingesperrtseins und suche mich mit einem neuen langen Tag am Schreibtisch abzufinden. Dann verwandelt plötzlich ein Sonnentag das Sibirien in ein Doktor-Schiwago-Land hellgleißenden Eises und leuchtend weißen Schnees. Auf einem mit Decken gutgepolsterten Schlitten liege ich im Bikini, um etwas Vorfrühlingsbräune zu bekommen. Ebenso plötzlich dann wieder graues, rauhes Regenwetter. Mein Frustrationsspiegel steigt.
Anfang Mai läßt der Regen die Flüsse heftig anschwellen, was das Signal zum Aufbruch für die Anhänger eines neuen Abenteuersports ist. Wildwasserkanuten und Kajakfahrer drängen in die Adirondacks, um sich mit dem stärksten und ungestümsten unserer Flüsse zu messen — dem Oberen Hudson. Jeden Mai findet das Hudson River White Water Derby statt. Es ist im Laufe der Jahre zum beliebtesten und größten Wettbewerb dieser Art in Amerika geworden und zog einst Berühmtheiten wie Robert Kennedy und Ex-Innenminister Stewart
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