Allein in der Wildnis
ihre Kanus über Untiefen zu ziehen. Ich staunte über Clarence. Er hatte die Schultern und die Muskeln eines Dreißigjährigen, aber sein Gesicht trug die Spuren von siebzig Jahren Arbeit im Freien. Am Oberen Saranac Lake geboren, lebte Clarence in einem Zeltlager und wurde von einem »Guide«-Vater aufgezogen. Clarence kennt sich in den Wäldern besser aus als jeder andere Mann, mit dem ich je zu tun hatte.
Trotz der Kälte, trotz störender Baumäste, trotz Regens und Umwegen machte mir diese Miterkundung eines Wildflusses viel Spaß. Und wild ist der Oswegatchie tatsächlich. Er fließt frei und ist nur auf dem Wasserweg, zu Fuß und zu Pferd erreichbar; es gibt an ihm keinerlei Kunstbauten außer Fußbrücken, und er ist über acht Kilometer lang. Andere als »landschaftlich schön« oder »Erholungsgebiet« geschützte Flüsse sind meist schon stärker von der Zivilisation berührt, wenn auch stets frei von Kanalisierung und Regulierung.
Am Ende unseres fünfunddreißig Kilometer langen, zwei Tage dauernden Kanu-Trips fragte ich Clarence, ob der Westarm des Oswegatchie schutzwürdig sei.
»Klar, er ist wild und sollte unbedingt unter Schutz gestellt werden«, antwortete der weißhaarige Biologe langsam mit einem Lächeln. »Es gibt nicht mehr viele Stellen, an denen man einen so unverbrauchten und sauberen Fluß findet.« Wie um es zu unterstreichen, schöpfte er eine Handvoll teefarbenes Wasser und kostete es. Die braune Farbe kam von der Gerbsäure der Bäume und war harmlos. Sie gab dem Fluß auch den Namen: Oswegatchie, »schwarzes Wasser«. »Wir werden empfehlen, daß dieser Flußteil in den gesetzlichen Schutzkatalog aufgenommen wird.«
Als ich an diesem zweiten Tag sehr spät abends zur Hütte zurückkehrte, das Kanu hinter dem Motorboot schleppend, hatte der kalte Regen aufgehört. Zögernd blinkten ein paar Sterne über meinen hohen Tannen. Ich vertäute das Boot, zog das Kanu an Land und stülpte es um. Dann setzte ich mich mit Pitzi auf den Anleger und entspannte mich nach der langen Fahrt. Kein Laut durchbrach die frühe Mainacht. Keine Käuze, Frösche und Tauchervögel riefen, kein Fisch sprang, kein Biber schwamm. Es herrschte völlige Stille, aber eine Stille von der Art, wie sie einer Sinfonie vorangeht. Einer Sinfonie, die sehr bald beginnen sollte. Die so lange hinter Wolken versteckt gewesenen Sterne waren jetzt heller.
Mit Befriedigung sah ich, daß Orion, der mächtige Winterjäger, erschöpft von meinem Dach hinunterglitt, nach Westen hin.
10
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Frühling
Absolut still ist es auch, wie ich im Morgengrauen aufwache. Es ist fünf Uhr. Kein Regen trommelt aufs Dach. Keine Eisblumengravur auf den Scheiben meines Schlafzimmerfensters. Aus dem Osten kommt ein reines, blasses, gelbes Leuchten; es schimmert hinter den knospenprallen Bäumen. Etwas ist anders. Ich liege wach in meinem weichen, warmen Kokon, hin- und herdriftend zwischen Schlummer und Verwunderung, was sich wohl verändert hat.
Ich rolle mich auf den Bauch, drücke die Fensterverriegelung auf und hole Luft. Das ist es: Frühling! Der Frühling ist gekommen.
Rasch werfe ich die Decken zurück, eile meine kleine Himmelsleiter hinunter, erschrecke den Hund, der laut bellt (weil ich so früh auf bin), kämme mir das zerwühlte Haar, ziehe mein Flanell-Nachthemd aus, werfe mich in Jacke und Jeans und mache lächelnd die Tür auf, um den Frühling einzulassen.
Lange bleibt er nicht. Auf seiner raschen Reise nach Norden macht der Frühling, je weiter er sich dem Polarkreis nähert, immer kürzerdauernde Besuche. In unserer Gegend — bei 42 Grad nördlicher Breite — hält er sich ungefähr zwei Wochen auf. Es ist eine erregende, launische, befruchtende Visite, deren Zeitpunkt unberechenbar ist. Nach der Eisschmelze läßt sich der Lenz immer erst mindestens zehn Tage Zeit und beschert uns Ende April, Anfang Mai erst einmal düsterstes Sibirien-Wetter. Er weigert sich, sich häuslich niederzulassen, wie etwa in Virginia, wo er Kardinalsvögel zu jubilierenden Konzerten verführt und cremefarbene Magnolienblüten hervorlockt.
Statt dessen kommt der Frühling unverhofft, wie heute, und kündigt sich nur durch eine Weichheit und Wärme in der Luft an, wie sie uns fast sechs Monate lang gefehlt hat.
Das Leuchten ist jetzt stärker geworden, und perlrosa Licht übergießt die Berge um den Black Bear Lake. Drei Tage Frühlingssonne, und die Bäume werden kräftig Blätter treiben, ohne die herrlich-unschuldige
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