Allein in der Wildnis
Übergangszeit des pastellenen, samtweichen ersten Grüns. Sie werden sich sehr schnell mit ernstem, tiefgrünem erwachsenen Laub überziehen. Für Unreifes bleibt hier im Nordland nur sehr wenig Zeit. Das Leben ist hart, rauh und nüchtern.
Eine Flöte tönt aus dem Dunkel unter den Balsamtannen. Rein und klar singt eine Weißkehlammer aus voller Brust ein Sonnenaufgangs-Liebeslied an ein noch zu findendes Weibchen. Ihr melodisches Pfeifen ist einer der schönsten Naturlaute der Adirondacks; Clarence Petty hält es für den Klang der Adirondacks.
Nach der »Waldflöte« wird das aufbrausende Tirilieren eines Winterzaunkönigs vernehmbar. Zwar ist dieser Vertreter der Vogelwelt ein Winzling, aber aus seiner kleinen Kehle schmettert er ein lauteres, längeres Lied als alle anderen Arten, die ich kenne. Auch er bewacht ein Stückchen Tannenwald als Revier und wirbt singend um eine Partnerin.
Eine Spezies nach der anderen erwacht an diesem Frühlingsmorgen und erhebt ihre Stimme. Überall im Wald regen sich Singvögel, die alle ihr Hochzeitskleid tragen, sich putzen und futtersuchend durch die noch nackten Bäume flirren. Nach dem Frühstück beschließe ich, den Tag mit Vogelbeobachtungen zu verbringen. Ich staube mein Fernglas ab und packe ein Sandwich und Hundekekse, Notizbuch und Kugelschreiber ein. Pitzi und ich gehen auf eine geruhsame Rundwanderung, die nur ungefähr sechs Kilometer umfassen, aber verschiedene Lebensräume berühren wird. An die fünfzig Spezies werde ich wahrscheinlich zu sehen bekommen.
In östlicher Richtung brechen wir auf und erreichen durch die Tannen hinter der Hütte zunächst meinen kleinen Sumpf. Hier sind sicher Rotstärlinge, Fichtentyrannen und Waldtyrannen zu finden. Dann streifen wir an einem der seichten Weiher entlang, an die mein Land grenzt, und halten Ausschau nach dem üblichen Paar Kappensäger, einem Kanadareiher und vielleicht einem Eisvogel. Ein Streifen Laubwald beherbergt Dutzende von Singvögeln: Hemlockwaldsänger, Kronwaldsänger, Fichtenwaldsänger, Gründwaldsänger und Blaurückenwaldsänger.
Wie wir den Biberteich erreichen, befehle ich dem Hund, ruhig zu sein, und krieche auf die kleine Landzunge hinaus. Ein Pärchen Bindentaucher ist in voller Balz. Leidenschaftlich schwimmen sie aufeinander zu, drehen im letzten Moment ab und gleiten Seite an Seite weiter, zärtlich flötend. Ein Schwarzentenweibchen schwimmt verstohlen zwischen den im Wasser stehenden Lärchen durch. Wahrscheinlich bewacht es bereits ein Gelege. Fliegenschnäpper zwitschern von den toten Zweigen. »Bitte — vier Bier. Bitte — vier Bier«, rufen sie ununterbrochen.
Der Morgen ist ungewöhnlich warm, und tatsächlich, ein kühles Bier wäre jetzt nicht schlecht. Wir spazieren durch einen Einschnitt und einen Abhang hinab zum Sunshine Lake. Dort im trockenen Laub hört Pitzi ein Rascheln. Obwohl er ein Schäferhund ist, erstarrt er in Vorsteh-Haltung. Ein Junghase könnte es sein, oder ein Rothörnchenjunges. Zum Hinterherhetzen bereit, läßt Pitzi plötzlich die Pfote fallen. Ein hochnäsiger Töpfervogel raschelt vorbei, rechts und links Blätter aufstiebend, auf der Suche nach Nahrung. Er macht mehr Lärm als ein Elefant.
Am Sunshine Lake strecken wir uns auf einem Stückchen Sandstrand aus, um die Frühlingssonne aufzusaugen. Wie stark und heiß sie ist. Fünf Monate war ich in Winterkluft und langen Unterhosen verpackt und bin nun weiß wie ein Pilz. Ich ziehe mich aus: herrliche Sonnentaufe auf nackter Haut.
Plötzlich ein hartes Kreischen über mir. Ich öffne die Augen einen Spalt weit, geblendet von der Sonne, und sehe eine große Möwe über mir. »Raus! Raus!« schreit sie. Wie ein Wurfgeschoß landet ein Kotklecks auf Pitzis Flanke. Woher die Aufregung? Den See mit dem Fernglas absuchend, sehe ich das Weibchen, eine schneeweiße, geistergraue Silbermöwe, unschlüssig auf einem aus dem Wasser ragenden Stein stehen. Über den Stein ziehen sich sternförmig weiße Streifen. Die Möwen haben hier einen Schlafplatz, vielleicht sogar ein Nest. Den See betrachten sie als ihr Revier, und der Hund und ich sind äußerst unwillkommen. Wir müssen den Platz räumen oder uns auf stundenlanges Störfeuer gefaßt machen. Doch die Vögel müssen sich noch einen Moment gedulden.
Ich schnappe Pitzi am Kragen und wate mit ihm in das immer noch eisige Wasser (zum Baden wird es erst Mitte Juni taugen). Wir krümmen uns beide vor Kälte, aber ich wasche ihm den Vogelkot ab und spritze mir
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